MichaelHaderer_Fremdkoerper_flipbook Flipbook PDF

Die umgekehrt kafkaische Metamorphose eines Käfers, der unversehens in Herbs Hirn geraten ist. In neuer Gestalt muss Jan
Author:  a

57 downloads 183 Views 221KB Size

Recommend Stories


Porque. PDF Created with deskpdf PDF Writer - Trial ::
Porque tu hogar empieza desde adentro. www.avilainteriores.com PDF Created with deskPDF PDF Writer - Trial :: http://www.docudesk.com Avila Interi

EMPRESAS HEADHUNTERS CHILE PDF
Get Instant Access to eBook Empresas Headhunters Chile PDF at Our Huge Library EMPRESAS HEADHUNTERS CHILE PDF ==> Download: EMPRESAS HEADHUNTERS CHIL

Story Transcript

Impressum: Copyright © 2016 Michael Haderer Alle Rechte vorbehalten Verleger: Michael Haderer, Wien Covergestaltung, Coverillustration, Layout: Michael Haderer Lektorat: Karin Flunger Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Rechteinhabers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verfilmung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. ISBN: 1539550419 ISBN-13: 978-1539550419

Inspired by true events

PROLOG

Ich vermute, dem Herrn Mag. Moser von der Polizeidienststelle Wien-Landstraße war immer noch ein wenig übel, als er die Aktenkennzahl KR320/LS/93 in das dafür vorgesehene Feld eintrug und seinen Namen dahintersetzte. Der Fund, den seine Abteilung an jenem Nachmittag des 16. September 1993 gemacht hatte, war so außergewöhnlich und grauenvoll anzusehen, dass er für lange Zeit in den Köpfen der an der Amtshandlung teilnehmenden Beamten herumspuken würde. Per Zufall war man auf den versteckten Raum gestoßen, wegen eines Ausbaus oder Umbaus. Genau weiß ich es nicht mehr. Tief unten im Labyrinth des Wiener Kanalnetzes. Jedenfalls hatte man eine schwere Eisentür gefunden, die auf keinem Bauplan verzeichnet war – ebenso wenig wie das Gruselkabinett mit den vier in grotesken Posen erstarrten und auf mysteriöse Weise mumifizierten Leichen dahinter. Die Boulevardpresse stürzte sich gleich geifernd auf das Rätsel der Kanalmumien und es wurde spekuliert und geschrieben, bis den Redakteuren die Finger bluteten. Ein Überbleibsel aus der Zeit der ersten Türkenbelagerung sollte der geheimnisvolle Ort gewesen sein oder auch der zweiten. Eine geheime Zuflucht vor den anstürmenden Horden alles und jeden islamisierenden Osmanen das eine Mal und eine christlich-habsburgische Folterkammer, in der man irrgläubigen Gefangenen die Zehennägel zog, das andere Mal. Dabei interessierte es die Reporter wenig, dass die Behörden nicht müde wurden, bei jeder Pressekonferenz auf die moderne Kleidung der Toten hinzuweisen, die so gar nicht zur Tracht eines Zeitzeugen des beginnenden sechzehnten Jahrhunderts passte.

–7–

Die Tür war von innen verschlossen gewesen und es sah aus, als hätte es einen Kampf gegeben. Nur der eine, der auf eine alte Tragbahre gefesselt war, hatte – man konnte das angeblich trotz seines Zustands noch gut erkennen – einen auffällig zufriedenen Ausdruck im, nun ja, in dem, was einmal sein Gesicht gewesen sein mag. »Geradezu ein Leuchten!«, gaben die ersten Polizisten vor Ort zu Protokoll, sobald sich ihre Mägen von dem grässlichen Gestank und Anblick einigermaßen erholt hatten. Die Beamten konnten sich nicht wirklich einen Reim darauf machen, was sich wohl in dieser Kammer abgespielt haben mochte. Aus dem Grad der Verwesung der Leichen ließen sich die Ereignisse zwar – soweit waren sich die Wissenschafter einig – mit ziemlicher Sicherheit auf das Jahr 1989 zurückdatieren, aber selbst die erfahrenen Forensiker des FBI, die man behördlicherseits schließlich hinzugezogen hatte, waren nicht mehr in der Lage, genau zu eruieren, wie die Personen ums Leben gekommen waren oder ob und wenn ja, dann wer von wem um Selbiges gebracht worden war. Schließlich schloss die Polizei den Akt als »ungelöst« und ließ ihn ins Archiv bringen. Ich werde hier nicht preisgeben, wem ich die überaus illegale Zuspielung dieses Dossiers zu verdanken habe, denn ich will meinen Gönner weder bloßstellen, noch der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen. Doch nun, nach Abschluss des Studiums aller Bilder, Schriftstücke und anderer Sachbeweise, nachdem ich jahrelang ausgiebig in den Leben und Vorleben der Verstorbenen gewühlt und umgerührt habe und nach eingehender Recherche an den Orten des Geschehens, meine ich zu wissen, was damals wirklich geschehen ist. Und ich beteuere hiermit, dass ich überzeugt bin, dass sich alles so oder so ähnlich zugetragen hat, wie hier niedergeschrieben – wenngleich es einem vielleicht schwerfallen mag, das zu glauben.

–8–

01

Damals in den Achtzigern gab es noch die alten Wählscheibentelefone, deren durchdringenden Klingelton man weder ändern noch leiser schalten konnte. Wenn man nicht das Glück hatte, einen Anrufbeantworter zu besitzen, der sich nach ein paar Tönen dazwischenschaltete und der akustischen Tortur ein Ende bereitete, war man arm dran nach einer durchzechten Nacht. Herbs alter Apparat erzeugte besonders bösartige Laute, weil sich wohl irgendwo eine Schraube gelockert hatte, die mit jedem Klingeln vibrierte und schepperte. Scharfe metallische Töne, die ohne einen Funken Mitgefühl sein Hirn aus der tiefen Bewusstlosigkeit rüttelten, in die er es am Abend zuvor mit zumindest drei Litern Bier und einer Flasche billigen serbischen Obstbrandes befördert hatte. Sechs Uhr morgens. Herb hob die Augenlider ein klein wenig an und blinzelte auf die grünlich schimmernde Tritium-Anzeige seines Weckers. »Wer zum Teufel …? Nichts kann so wichtig sein!« Er presste den Polster auf seinen Kopf und fluchte darunter weiter. Mit jedem neuen Klingeln brandeten Wellen unaussprechlichen Schmerzes an seine Frontallappen und schwemmten das Treibgut vager Erinnerungen an die letzte, in Schnaps versenkte Nacht an: Das Wettcafé Cojones. Der etwas heruntergekommene Spielplatz für mutige Glücksritter und Hasardeure. Das Fußballteam der dritten italienischen Liga, das schon wie der sichere Sieger ausgesehen hatte, ehe der Schiedsrichter der

–9–

Partie eine Reihe unfassbarer Fehlentscheidungen getroffen und so den Ausgang des Spieles massiv zu Herbs Ungunsten beeinflusst hatte. Der kleine Beleg, auf dem in wenigen Worten und Ziffern die große Hoffnung auf das schnelle Geld geschrieben stand, bis Herb ihn – wie schon so oft – aus Enttäuschung in winzige Teile zerrissen und diese auf dem von verschütteten Getränken klebrig gewordenen Boden der Spelunke verstreut hatte. Das wissende, überhebliche Lächeln des lungenkranken Lokalbesitzers, den alle nur den Landauer nannten und der sich mit Wetten, vor allem aber mit Wettbetrügereien, bestens auskannte. Die obdachlosen Seelen, die halb eingeschneit auf den Stufen des Tegetthoff-Denkmals auf dem Vorplatz des Wiener Nordbahnhofs saßen und ihm zuwinkten, als wäre er schon einer von ihnen, während er sich spätnachts durch den eisigen Schneesturm nach Hause arbeitete. Die Huren vom Max-Winter-Platz, die gleich unter seinem Schlafzimmerfenster ihre letzten Kunden abfertigten, um sich danach rasch in ihre kleine Bleiben zurückzuziehen und sich den Dreck der Nacht abzuwaschen. Die pflichtbewussten Hausbesorger, wie sie aus ihren Erdgeschosswohnungen in die Dunkelheit schwärmten und damit begannen, den ersten Schnee im November von den Gehsteigen zu schaben, weil er dort nichts zu suchen hatte – schon gar nicht so früh im Jahr. Herb griff sich die leere Schnapsflasche vom Boden und schleuderte sie aus dem Handgelenk. Zu kraftlos. Zu ungenau. Der Apparat schepperte gehässig weiter. Heute war IHR Tag. Der eine Tag. Sein Geburtstag. Den würde sie sich nicht so einfach nehmen lassen.

– 10 –

»Was ist nur aus dir geworden, warum nur bist du so herzlos?«, dröhnte es aus der Leitung, als Herb es endlich fertiggebracht hatte, sich auf die andere Seite des Zimmers zu schleppen und das unvermeidliche Gespräch anzunehmen. »Herbert Kratochvil, ich habe dir unter unmenschlichen Qualen das Leben geschenkt. Ich habe mich aufgerissen, damit du mit deinem Dickschädel in diese Welt gepasst hast. Bedeutet das denn gar nichts? Wenn ich morgen sterbe, würdest du es frühestens in einem Jahr bemerken. So lange müsste ich in meiner Wohnung verfaulen, weil mein Herr Sohn sich einen Dreck um mich schert!« Herbs Mutter hatte es nie verwunden, dass er von ihr weggegangen war. Dass er sie alleingelassen hatte und ihr obendrein verboten hatte, ihn zu besuchen. Welch Unverfrorenheit! Wie konnte er sich so etwas erlauben? Einmal im Jahr, an seinem Geburtstag, durfte sie ihn anrufen. Mehr nicht. Und sogar das musste sie ihm auf Knien abtrotzen, sich erniedrigen und ihn darum anflehen. Wie erbärmlich! »Die Nachbarn würden dich finden und mich dann verständigen, da bin ich sicher, Mutter«, versuchte Herb zu beschwichtigen. Das war gelogen. Tatsächlich würde sie niemand, der sie persönlich kannte, ernsthaft vermissen oder gar suchen gehen, sollte sie eines Tages nicht mehr keifend im Stiegenhaus des Mietshauses stehen und die Nachbarn beschimpfen. Die Frau war böse und gemein und keiner in ihrem Haus mochte sie leiden. »Die Nachbarn? Du hast ja keine Ahnung! Im Haus sind schon so viele Türken eingezogen, man kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein als alleinstehende Frau. Du musst wieder zu mir kommen. Du musst mich beschützen! Nicht auszudenken, wenn mich einer von denen …!«, sie sprach den Satz nicht zu Ende oder Herb hörte ihn einfach nicht mehr. Die infernalischen Kopfschmerzen forderten seine volle Aufmerksamkeit.

– 11 –

»Wenn du wieder bei mir wohnen würdest …« Sie machte eine kleine Pause, um ihrem Sohn Zeit zu geben, die Vorteile zu bedenken. Herb bedachte gar nichts in der Richtung. Er sehnte sich nach seinem Bett und nach einer ordentlichen Dosis Aspirin. Sie versuchte es mit der milden, verständnisvollen Tour. »Ich verzeihe dir. Du wolltest dir die Hörner abstoßen, wie man so sagt. Dir deine Männlichkeit beweisen. Das verstehe ich doch. Ich bin dir auch nicht mehr böse. Wenn du deinen Fehler jetzt einsiehst, wirst du es nicht bereuen. Ich werde dich schon nicht beißen, du musst mir nur versprechen, dass du von nun an ein braver Junge sein wirst.« Er durfte zurückkommen und wieder bei ihr einziehen, wenn er sich zu hundert Prozent unterwarf. »Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es ist«, erwiderte Herb ungerührt. »Ich werde nicht wieder bei dir wohnen.« »Ich meine es ja nur gut!« Sie schluchzte laut auf. Sein Widerstand würde sich in der Säure ihrer Tränen auflösen, die Schuldgefühle würden ihn weichkochen. Weinen war ihre schärfste Waffe. Der hatte er unter normalen Umständen nicht viel entgegenzusetzen. »Das zieht heute nicht mehr, Mutter! Ich falle auf die Mitleidstour nicht mehr herein. Ich hasse es, wenn du weinst, aber ich werde unter keinen Umständen mehr zu dir zurückkommen!« Weil auch dieser Plan fehlschlug, geriet sie derart in Wut und begann so laut zu schreien, dass es Herb vorkam, als hielte er sein Ohr direkt an den Schallbecher einer von einem manischen Volksmusikanten geblasenen Trompete. Für einen kurzen Moment zogen sich sogar seine Kopfschmerzen verschüchtert zurück. Sein Gehirn geriet bei diesem Lärm in gefährliche Schwingungen. Die Mutter wollte sich mit aller Macht durch die Telefonleitung direkt in seinen Kopf pressen, sein System sozusagen von innen heraus angreifen.

– 12 –

Plötzlich spürte er, dass etwas in ihn eindrang. Zuerst war es nur ein seltsames Kitzeln, so ähnlich wie Ohrentropfen einen ein wenig kitzeln, sobald die Flüssigkeit in den Gehörgang einläuft. Nicht einmal unangenehm. Herb schaute verdutzt. Er hatte, wegen des Überraschungsmoments noch keine vernünftige Theorie parat. »Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt kriecht mir die alte Hexe in mein Hirn!« Er schleuderte den Hörer samt Mutter gegen die Wand, sodass er in seine Einzelteile zerbarst. »Geh raus aus mir«, klagte Herb. Es dauerte ein wenig, bis er begriff, dass nicht die Mutter, sondern ein Insekt ihn hineingekrochen war. Es hatte wohl im Telefonhörer gewohnt und war vom Geschrei der Frau in die Flucht getrieben worden. Nun versuchte es sich in Herbs Gehörgang ein gemütliches neues Nest einzurichten. Eine Ameise? Eine Spinne? Eine Raupe, die sich an seinem Gehirn sattfraß, bis sie schließlich, in eine fette Motte verwandelt, durch eine seiner leeren Augenhöhlen in die Welt hinaus surrte? Oder vielleicht ein Mistkäfer? Ein Mistkäfer war denkbar. Herb war nicht eben pingelig, wenn es um häusliche Sauberkeit ging. »Um Himmels willen! Bitte, bloß keine Kakerlake!« Der widerlichste aller möglichen Gedanken. Das Tier musste jedenfalls scharfe Gliedmaßen haben, denn was immer es da drinnen anstellte, es tat ziemlich weh. Er befühlte die Ohrmuschel vorsichtig mit seinem Zeigefinger. Blut. »Es muss heraus! Jetzt. Sofort!« Herb bohrte seinen Zeigefinger so tief in seinen Gehörgang, wie es nur ging. Vielleicht konnte er es an einem seiner Füßchen greifen und herausziehen oder es mit seinen zu langen, ungepflegten Fingernägeln herauskratzen, wie überschüssiges Ohrenschmalz. Seine Finger waren für dieses Vorhaben aller-

– 13 –

dings um zwei Nummern zu dick. Selbst mit dem Kleinen kam er nicht einmal in die Nähe seines Widersachers. Er stellte sich vor, wie der verdammte Käfer sich über ihn lustig machte und ihn verspottete: »Du kriegst mich nicht! Mit deinen Wurstfingern!« Dass selbst ein so niederes Tier nicht die geringste Achtung vor ihm hatte, machte Herb rasend. Es erzeugte ein unerträgliches, kratzendes Dauergeräusch. Zermürbend, wie eine auf einem Nagel abgespielte VinylSchallplatte, wie ein Song nach der zwanzigsten Wiederholung: Genervt bettelt man den Mann am Plattenspieler um etwas Abwechslung an. Aber er lässt sich in seine Performance nicht drein pfuschen und bleibt unbeirrt auf seiner Linie. Herb versuchte sich unter diesen Bedingungen auf eine neue Strategie zu konzentrieren. »Wasser!« Er tippte sich selbst tadelnd auf die Stirn. »Warum ist mir das nicht gleich eingefallen? Das Ding herausspülen! Das muss klappen.« Er rannte in die kleine Küche, zur Sitzbadewanne, der einzigen Wasser spendenden Quelle in dieser Wohnung. Manchmal auch Behelfspissoir, wenn Herb für den Weg zum Gangklo zu faul oder zu betrunken war. Und heute die rituelle Hinrichtungsstätte dieses unerwünschten Mitbewohners. »Ich werde dich nicht ersäufen! Das hättest du wohl gerne. So einfach wird dein Tod nicht werden.« Er wollte das Tier noch leiden sehen, bevor er es in die Hölle schickte. Herb nahm das Haarsieb und platzierte es auf dem Abfluss. Die Wanne schien ihm der perfekte Auffangbehälter. Er drehte an den Armaturen, bis er die Wassertemperatur angenehm fand. Dann legte er den Kopf zu Seite und begann mit dem Fluten seines Hörorgans. »Ein wenig einwirken muss es natürlich. Ha!«, lachte Herb siegessicher. Die richtige Portion Zynismus zur richtigen Zeit. »Warte nur, ich werde meinen Spaß haben mit dir, das verspreche ich!«

– 14 –

Nach einigen Momenten voreiliger Schadenfreude drehte Herb den Kopf ruckartig zurück, weil er hoffte, dass der so austretende Schwall das Tier mitreißen würde. Er malte sich aus, wie es schreiend in den Abgrund der Wanne stürzte und dort um Gnade winselte, weil eine Flucht aussichtslos war. Aber seine Wünsche blieben ungehört. Nur Wasser rann aus dem Ohr und strudelte langsam in den Abfluss. Kein Käfer blieb im Haarsieb hängen und auch sonst war nichts zu sehen. Herb prüfte jeden Zentimeter. Nichts. Er konzentrierte sich auf sein Ohr. Vielleicht war das Vieh ja wenigstens ertrunken. Ein wenig Hoffnung keimte auf, weil im Moment irgendwie Ruhe herrschte. Sowohl außen als auch innen. Als Herb sich schon daranmachte, die Befreiung von seinem Parasiten mit der letzten im Kühlfach verbliebenen Tiefkühl-Pizza zu feiern, hob der Käfer sein penetrantes Gesäusel von Neuem an. Vielleicht sogar noch gemeiner als zuvor. Als wollte er sagen: »Der zweite missglückte Versuch, hahaha, du kannst es nicht! Du bist ein Versager!« Herb ließ sich erschöpft und etwas entmutigt auf den alten Diwan fallen, den ihm der Vormieter hinterlassen hatte, weil er zu faul gewesen war, ihn ordnungsgemäß zu entsorgen. Wenn man die Rückenlehne zuerst etwas anhob und dann niederdrückte, ließ sich ein halbwegs vernünftiges Bett daraus zaubern. »Nicht wirklich für zwei geeignet.« Herb versuchte schon lange, eine potenzielle Kandidatin für den Platz neben ihm zu finden. »Sie müsste schon ziemlich dünn sein. Und klein. Und sie müsste ziemlich verliebt an mir kleben, sonst ginge sich das nie aus.« Schöner Gedanke. Aber er kannte keine, die die Bedingungen auch nur annähernd erfüllt hätte. Vor allem an der letzten Hürde scheiterten sie alle. Die Einzigen, die sich hartnäckig an ihn klammerten, waren zum einen seine Mutter und neuerdings das lästige Getier in seinem Ohr. Die Mutter war für dieses Mal

– 15 –

erfolgreich abgewehrt. Der Telefonhörer lag immer noch kaputt auf dem Boden. Kein Ton kam mehr aus seiner Richtung. Allem Anschein nach hatte die dominante Herrscherin klein beigegeben. Nun galt es noch den kleinen Eindringling loszuwerden, der immer noch zirpend in seinem Ohr saß. Der Tag war noch zu retten. Der Staub der letzten Wochen, wenn nicht Monate, der sich auf Herbs rissigem Parkettboden angesammelt hatte, brachte ihn auf eine neue Idee. Zugegeben, der Gedanke war ein wenig unkonventionell. Aber rein physikalisch, meinte Herb, müsste er eigentlich zum ersehnten Ergebnis führen. Ein Insekt mag sich der Gravitation entziehen und an der Decke laufen können, aber dem Unterdruck eines M-2500-Watt-Staubsaugers würde es nichts entgegenzusetzen haben. Das war todsicher. Die Schwierigkeit bestand vor allem darin, das Tier anschließend im Staubbeutel wiederzufinden. Nach wie vor bestand Herb ja auf seiner Rache. Den langsamen, qualvollen Tod. Das Tier musste für die verursachten Schmerzen büßen. Daran führte kein Weg vorbei. Er nahm die Schachtel mit dem Gerät aus dem Kleiderschrank, legte die Saugrohre sorgfältig nebeneinander auf den Boden und setzte aus ihnen, wie ein Heckenschütze, seine AntiInsekten-Waffe zusammen. Er entschied sich für den kurzen Lauf, weil einfach praktischer, wenn an das eigene Ohr gehalten, und stellte sich vor den Spiegel, der an der Schranktür angebracht war. Es sah beinahe so aus, als wollte er sich mit dem Staubsauger selbst erschießen. »Sprich dein letztes Gebet!«, forderte Herb seinen Gegner auf und drückte mit den Zehen auf den Startknopf. Fast hätte es ihm Hirn und Augen aus dem Schädel in den Staubbeutel gesogen, so stark war der M 2500. Mehr als ein paar Sekunden hielt er dem Sauger nicht stand. Schnell, solange er noch Herr seiner Entscheidungen war, drückte er seinen Fuß wieder auf den Power-Knopf.

– 16 –

»Don’t try this at home!«, riet er seinem Spiegelbild. Er fühlte sich etwas schwindelig nach dieser Prozedur. Doch Herb hatte keine Zeit, sich deshalb hinzulegen und die Beine hochzulagern, bis sich sein Kreislauf wieder stabilisierte. Er musste das Vieh finden, und zwar schnell, ehe es aus dem Staubbeutel flüchten konnte. Die Klappe des M 2500 war Gott sei Dank leicht zu öffnen. Darunter befand sich der pralle Beutel, voll Dreck aus vergangenen Tagen. Herb öffnete den Sack vorsichtig an einer Seite und schnitt dann das Papier, wie ein Chirurg eine Bauchdecke, mit einer Nagelschere nach und nach auf. Keine Sekunde ließ er dabei den Staub aus den Augen. Nicht die kleinste Bewegung durfte ihm entgehen. Nun, da er den Beutel zur Gänze geöffnet hatte, breitete Herb sorgsam den Inhalt auf dem Boden aus. Er trennte Haarbüschel von Zigarettenstummeln und anderen nicht mehr definierbaren Schmutzpartikeln. Mit einem kleinen Metallkamm zeichnete Herb im Stile eines Kare-San-Sui-Zen-Meisters gleichmäßige Muster in den Dreck. Aber kein Tier. Nicht mal eine tote Fliege. Er begann nun hektischer zu wühlen. Der aufgewirbelte Staub tauchte das Zimmer in einen Nebel aus Ruß, Hautschuppen, Haaren und etlichen anderen undefinierbaren Ablagerungen längst vergangener Zeiten. Alles um ihn herum versank im Dreck. Herb nahm dieses Chaos kaum wahr. Er war ganz darauf fixiert, die Leiche seines Gegners auszugraben. Er musste sichergehen, dass er ihn besiegt hatte. Doch da war nichts. Konnte das Vieh entwischt sein? Zentimeter für Zentimeter untersuchte er den Boden vor sich. Keine Regung. »Nein! Sei still! Sei endlich still!«, schrie er verzweifelt, als das Gejammer und Gekratze in seinem Gehörgang erneut einsetzte. Alles war umsonst gewesen. In Herbs verzerrtem Gesichtsausdruck spiegelte sich der ganze Frust über die neuerliche Niederlage. Er richtete seinen Blick Hilfe suchend nach oben. Immer

– 17 –

noch auf den Knien, bot er einen erbarmungswürdigen Anblick. Sogar ein Atheist hätte Gott um Gnade für diesen armen Sünder angefleht. Ein Häufchen Elend im Dreck. Die Schmerzen im Ohr, das Pochen im Hirn, der sägende Lärm überall in seinem Kopf trieben ihn langsam in den Wahnsinn. Er presste einen lauten langen Schrei aus seinen Lungen. Vielleicht konnte er alles andere übertönen. Den Gegner niederschreien, ihm Angst machen, sodass er wenigstens mit dem Lärmen aufhörte. Das wäre ein Anfang, ein Kompromiss, auf den sich Herb einließe. Ein wenig Ruhe, das war seine bescheidene Forderung. Darauf könnte man sich mit ihm einigen und einen Sonderfrieden aushandeln und meinetwegen in Symbiose weiterleben. Nur der Krach sollte endlich aufhören. »Bitte!« Doch weder Gott noch Käfer hatten an diesem Morgen ein Einsehen. Es war schon erstaunlich, wie ein Wesen, das klein genug war, in ein Ohr zu passen, einen derart durchdringenden Lärm erzeugen konnte. Herb trommelte mit der flachen Hand auf sein Ohr. Auch wenn das natürlich in keiner Weise half, er tat es trotzdem, immer wieder. Dabei plärrte er sich in einen tranceartigen Zustand. Er war dabei, den Verstand zu verlieren. Plötzlich durchfuhr ihn ein besonders heftiger Schmerz. Der Eindringling hatte damit begonnen, sein Trommelfell zu durchtrennen. Mit scharfen Gliedmaßen, die er zum Zerteilen seiner Insektenbeute benutzte, oder mit furchterregenden Kauwerkzeugen, mit denen er sie einspeichelte und halb vorverdaut durch seinen Insektenschlund würgte. Es tat höllisch weh. Tränen schossen Herb in die Augen. Es war genug. Er konnte nicht mehr und er wollte nicht mehr. Er rannte in die Küche und wühlte hektisch in der Besteckschublade nach einer geeigneten Waffe. Er griff sich die offene Packung mit den 100 Schaschlikspießen für gesellige Grillabende

– 18 –

und streute die dünnen Holzstäbe auf den Küchentisch. Er nahm einen Spieß, umklammerte ihn fest in seiner Faust und verfehlte den Gehörgang beim ersten Versuch nur knapp. Er stach sich dabei eine unangenehme Wunde in das Ohrläppchen, die aussah, als hätte er sich mit brachialer Gewalt ein Loch für einen größeren Ohrschmuck piercen wollen. Verzweifelt versuchte er seine zittrige Hand so weit zu kontrollieren, dass er den Spieß in seinen Gehörgang einführen konnte, und begann dann wild darin herumzustochern. Immer wieder zog er das Holz heraus und stach erneut zu. Er würde seinen Peiniger aufspießen. Koste es, was es wolle. In nächsten Moment verlor er das Bewusstsein. Seine Beine gaben nach und sein Körper sackte zusammen. Kein Muskel hatte noch die Kraft, gegen die Ohnmacht Widerstand zu leisten. Er hatte sich noch am Duschvorhang seiner Sitzbadewanne festzuhalten versucht und hatte, als er zusammenklappte, das Plastik mitgerissen. So saß Herb in seiner kleinen Küche. An die Wanne gelehnt und von Kopf bis Hüfte in die geschmacklos gemusterte Plane gehüllt. Ein Wunder, dass er an diesem Geburtstagsmorgen darunter nicht erstickte.

– 19 –

02

»Janis!«, rief sie laut. »Ich bin ganz sicher. Ich heiße Janis!« Wenn man die unerfreuliche Lage bedachte, in der sie sich befand, schwang doch ein erstaunliches Maß Selbstbewusstsein und Überzeugung in ihrer Stimme mit. Es war schon beängstigend und irgendwie auch seltsam, so absolut gar nichts von sich zu wissen. Keine Erinnerung an Mutter oder Vater, nicht an bessere Zeiten oder eine unbeschwerte Kindheit. Einfach nichts. Da war die Gewissheit, seinen Namen zu kennen, wie eine rettende Insel, an deren Ufer man sich vor den tausend unbeantworteten Fragen in Sicherheit bringt, weil sie einem sonst häppchenweise das Hirn aufgefressen hätten wie ein Schwarm Piranhas. Janis hob ihren Kopf ein wenig an, sodass sie sich umsehen konnte. Jemand musste sie betäubt und entführt haben. Sie lag in einem alten Krankenhausbett, an Hand- und Fußgelenken an die Gitterstäbe gefesselt. Rost verdrängte zusehends die letzten schon vergilbten Reste weißen Lackes, mit dem man die Betten früher gestrichen hatte – wohl wegen der vermuteten positiven Wirkung dieser Farbe auf den Heilungsprozess. Zeit und Feuchtigkeit hatten dem Metall jedoch stark zugesetzt. In diesem Zustand rief es einem eher die unausweichliche Gewissheit von Vergänglichkeit und Verfall ins Bewusstsein. Quietschender, ausgeleierter Maschendraht schnitt sich schmerzhaft in ihren Rücken. Auf die Bequemlichkeit einer Matratze hatte man in ihrem Fall keinen Wert gelegt. Und doch: Auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett stand – als hätte sie gerade eben jemand dort abgestellt – eine kleine Vase mit frischem, gelb blühendem Johanniskraut. Welch seltsamer Kontrast.

– 20 –

Sie gab sich Mühe, wenigstens eine weitere verschollene Erinnerung wiederzufinden. Von dieser einen würde sie sich zur nächsten weiterarbeiten und von da zur übernächsten, bis sich daraus vielleicht einmal ein schlüssiges Bild zusammensetzen ließe. Doch da war nichts. Sie wusste nicht, wer sie war, woher sie gekommen war und noch weniger, wer oder was sie hierher gebracht hatte. Alles, was ihr in den Sinn kam, war dieser bizarre Albtraum, aus dem sie soeben aufgewacht war. Der Tunnel. Die Flucht vor bizarren Würmern, die sie immer weiter in diesen finsteren Gang jagten, aus dem sie eigentlich zu entfliehen versuchte. Fluten, die sie darin zu ersäufen und tödliche Waffen, die sie aufzuspießen drohten. Plötzlich ein Abgrund, in den Janis stürzte und schließlich hier als Gefangene wieder zu sich kam. Bruchstücke ohne irgendeinen Sinn. Und da waren auch noch die drei alten Frauen, die, bis auf ihre bleichen faltigen Gesichter ganz in Schwarz verhüllt, fremdartige Formeln sangen. In einem Stakkato, wie es sonst nur noch bezahlte Klageweiber bei Beerdigungen in ländlichen Regionen taten. »In nova fert animus mutatas dicere formas corpora. In nova fert animus mutatas dicere formas corpora«* Vielleicht war dieses Gefängnis ja nur Teil eines weiteren verrückten Traumes. Vielleicht war sie in einer bösen AlbtraumDauerschleife gefangen. Janis hoffte auf ein Geräusch aus der realen Welt, etwas, das sie wecken und nach Hause bringen würde. Sie ließ den Kopf zurücksinken und starrte nach oben. Es waren wohl in etwa drei Meter, schätzte sie, bis zu der altersschwachen Glühlampe, die ein paar flackernde Lichtstrahlen in die Dunkelheit streute. Die spärliche Beleuchtung ließ die schmutzig grauen Wände um sie herum noch trostloser wirken.

– 21 –

Kein Fenster. Nur Betonplatten, deren Ende in der schwarzen Leere des Raumes nicht auszumachen war und an deren Fugen langsam und lautlos Wasser herunterlief. Janis versuchte sich zu bewegen. Die ledernen Gurte, mit denen man sie an das Bett gebunden hatte, ließen dafür nur wenig Spielraum. Nicht genug, um sich an der Nase zu kratzen, wenn sie juckte. Die Beine konnte sie ein wenig anwinkeln und sich sogar etwas auf die Seite drehen. Von der Hüfte abwärts wenigstens. Sie zerrte an den Fesseln, aber das Material wollte keinen Millimeter nachgeben. Janis fühlte Wut in sich aufsteigen und begann zu schreien. So laut sie konnte brüllte sie in das Dunkel des scheinbar endlos hohen Raumes hinauf und rüttelte heftig an den Riemen. Sie schrie um Hilfe, fluchte und verwünschte ihre Peiniger und fuhr erschrocken zusammen, als eine Klappe in der Wand mit einem lauten metallischen Geräusch geöffnet wurde. »Still jetzt!«, herrschte sie eine Männerstimme an. »Still, sonst muss ich dir dein Maul stopfen!« Janis drehte ihren Kopf zur Stimme. Sie starrte zur Öffnung in der Tür und wurde ihrerseits von einem Augenpaar angestarrt. Ein Augenblick seltsamer Stille. Bevor Janis geeignete Worte fand, die sie an den Fremden hätte richten können, wurde die Klappe wieder geschlossen. Es war zu spät. Ihre Fragen und Bitten prallten von der Wand zurück und verloren sich irgendwo in der düsteren Zelle. * aus: OVID, Metamorphosen I, 1-4 In neue Körper verwandelte Gestalten zu besingen, treibt mich mein Sinn […]

– 22 –

03

Herb kam unter seiner Plastikplane langsam wieder zu sich. Er lehnte noch immer an der Sitzbadewanne und hielt den blutigen dünnen Holzspieß in der Hand. Besorgt betastete er sein verletztes Ohr. Die Schmerzen waren nun stärker. Aber sie störten ihn nicht. Statt des Gekrächzes des Käfers war sein Kopf nun mit allerlei Pfeiftönen erfüllt. Als spielte jemand Toccata und Fuge von Bach auf seiner inneren Orgel. War das wirklich nötig? Alles in allem fühlte er sich aber besser. Nein, eigentlich fühlte sich Herb erstaunlich gut. So gut wie man sich fühlt, wenn man nach einer in Schweiß getränkten Fiebernacht morgens aufwacht und erleichtert eine deutliche Besserung feststellt. Gleich meint man sich stark genug, Bäume auszureißen, springt aus dem Bett und wird, ehe man es bis zur Kaffeemaschine geschafft hat, von einem Schwächeanfall wieder zu Boden gestreckt. Er schätzte, dass vielleicht etwa eine Stunde vergangen war, seit die Dinge diesen bedrohlichen Verlauf genommen hatten, vielleicht weniger. Herb rappelte sich langsam auf, ging hinüber zum Schrank und besah sein Gesicht im Spiegel. Grau kam es ihm heute vor und etwas unscharf, aber das lag vielleicht an dem Schwindelgefühl. Schließlich war er soeben aus einer Bewusstlosigkeit erwacht. Da war eine gewisse Unschärfe in der Wahrnehmung nichts, worüber man sich wundern musste. Er versuchte sich die letzten Ereignisse noch einmal in Erinnerung zu rufen. Vom Anruf der Mutter bis zur verzweifelt erfolglosen Verteidigung seiner Körperöffnung. Im ganzen Zimmer lagen die Spuren des ungleichen Kampfes verstreut. »Keine gute Art, seinen Geburtstag zu beginnen. Aber noch ist ja etwas Zeit. Das Schlimmste habe ich schon hinter mir.«

– 23 –

Den letzten Satz nahm er selbst nicht ganz ernst. Als ahnte er schon, dass er da irrte. Logisch und vernünftig wäre es sicher gewesen, die Sache mit dem Trommelfell von einem Arzt begutachten zu lassen. »Was soll ich dem erzählen?« Herb versuchte sein Spiegelbild von der Sinnlosigkeit eines Arztbesuches zu überzeugen. »Dass mir ein Käfer in das Ohr gekrabbelt ist und ich mir deswegen einen Spieß ins Trommelfell gerammt habe? Einweisen wird er mich, ins Irrenhaus.« »Er wird mich fragen, was aus dem Tier geworden ist. Und ob ich noch andere Käfer gesehen habe. Er wird die Alkoholfahne der Nacht riechen und daraus seine Schlüsse ziehen. Ausnüchterung. Und danach ins Irrenhaus.« »Was ist denn wirklich aus dem Tier geworden?«, warf das Spiegelbild eine wichtige Frage in die Unterhaltung ein. »Vielleicht habe ich es doch abgestochen.« »Dann wäre es aber auf dem Spieß stecken geblieben.« »Guter Punkt.« Herb musste darüber nachdenken. Es könnte sich aus dem Staub gemacht haben, während er bewusstlos war. Klammheimlich aus dem Ohr gestohlen. Auf der Welle austretenden Blutes hinaus gesurft. »Wie und wo auch immer. Es ist nicht mehr da. Und das zählt. Nur das zählt. Basta.« »Man sollte jedoch bedenken …!« Das Spiegelbild wollte noch ein kluges Argument einbringen, aber Herb hatte keine Lust mehr. Es gab nun Wichtigeres zu tun. Dieses Jahr fiel sein Geburtstag – und das war an diesem Tag ausnahmsweise etwas Positives – auf den Auszahlungstermin des Arbeitsmarktservice. Fast hätte er es vergessen. Wegen des Parasiten hätte er fast auf seine Notstandshilfe vergessen! Die einzige Geldquelle, seit er 1985, also vor nun schon vier Jahren, von seinem damaligen Arbeitgeber, der Tabakfabrik Linz, auf die Straße gesetzt worden war, weil er aus Jux anzügliche Botschaften an Erich Honecker in die Kartonagen gekritzelt hatte,

– 24 –

die zum Export in die DDR bestimmt waren. Das war noch bevor ihn das Schicksal nach Wien gespült hatte, weil die Mutter meinte, dass sie sich wegen der Schande nicht mehr in der Nachbarschaft sehen lassen könne. Herb versuchte vergeblich, sich die Schuhe zu binden. Seine Finger gehorchten nicht. Oder die Schnürsenkel. Oder beide. Es musste an den Nachwirkungen der Bewusstlosigkeit liegen. Wie auch immer. Eine ordentliche Masche wollte nicht gelingen. Die Zeit wurde langsam knapp. Wegen der sich häufenden Überfälle auf Briefträger wurden Pensionen, Arbeitslosengeld und andere Geldsendungen nicht mehr an die Wohnungstür gebracht, sondern nur ein Abholschein im Briefkasten hinterlegt. Das Geld musste damit von der Postsparkasse geholt werden. Persönlich. Und bis Freitag mittags, Punkt 12 Uhr. Kam man auch nur eine Minute zu spät, hatte man Pech und kein Geld fürs Wochenende. Postler machen keine Überstunden für Freaks, die ihre Schuhe nicht binden können. Herb begnügte sich daher mit einem einfachen, unkomplizierten Knoten und verließ eilig die Wohnung. Der Abstieg aus dem zweiten Stock des typischen Wiener Altbauhauses verlief vorerst ohne Zwischenfälle. Im ersten Stock hielt Herb kurz an, weil ihn die gekünstelt lustvollen Schreie der Dame ablenkten, die in der 6er-Wohnung ihr erotisches Dienstleistungsgewerbe trieb. »Frühschicht«, meinte Herb kurz und machte sich daran, den nächsten Treppenabschnitt in Angriff zu nehmen. Er musste sich plötzlich am Geländer festhalten, weil ihn das Gleichgewicht verließ. Der Boden unter ihm schien sich mit einem Mal zu verformen und zu bewegen, als wäre er gänzlich aus Gelee. Eine schwabbelnde Masse. Selbst mit der Hand am Geländer fiel es Herb unglaublich schwer, auch nur einen Schritt zu setzen. Dazu kam ein kaum zu kontrollierender Brechreiz. Beinahe hätte er eine hellbraune Pampe aus halbver-

– 25 –

dauter Pizza und billigem Pflaumenfusel auf direktem Wege in das Erdgeschoss befördert. In diesem Moment kam seine betagte Nachbarin die Stiegen herauf. Frau Laner, die gute Seele des Hauses, rettete Herb gerade noch, ehe der Magen durch die Speiseröhre zurück ans Tageslicht katapultieren konnte, was besser im Dunkel blieb. »Was ist mit Ihnen? Soll ich die Rettung rufen?« Sie befühlte besorgt Herbs Stirn, als könnte seine Körpertemperatur über seinen Zustand Aufschluss geben. »Sie haben Fieber und gehören ins Bett! Sofort!« Sie sagte das sehr bestimmt, aber ohne ihre Stimme zu erheben. Normalerweise hätte Herb sicher auf ihren Rat gehört, aber jetzt hatte er etwas Wichtiges zu erledigen. Außerdem war das Schwindelgefühl nach ein paar Minuten auf ebenso mysteriöse Weise wieder verschwunden, wie es gekommen war. »Ist schon gut, Frau Laner. Es geht schon wieder. Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Unkraut vergeht nicht!« »Wie Sie meinen.« Die Nachbarin gab nach. Sie wollte sich auch nicht einmischen. »Läuten Sie halt an meiner Tür, falls Sie etwas brauchen!« »Danke, Frau Laner, danke vielmals. So werde ich es machen. Ich werde mich später bei Ihnen melden.« Langsam stieg Herb die restlichen Stiegen hinunter. Vielleicht wäre ein Arztbesuch doch nicht unvernünftig. Er beschloss, nach der Geldbehebung bei seiner Hausärztin vorbeizuschauen. Für alle Fälle. Fürs Gewissen. Zu ihr hatte er genug Vertrauen. Aber erst einmal musste er zur Post. Er sah auf die Uhr und erschrak. Es blieb ihm noch etwa eine halbe Stunde, ehe der Auszahlungsschalter dichtmachen würde. Wie konnte das sein? Seine Mutter riss ihn um sechs aus dem Schlaf und der Kampf mit dem Käfer mochte vielleicht eine halbe Stunde gedauert haben. Jetzt war es 11.34 Uhr. Er musste stundenlang ohne Bewusstsein gewesen sein. Es blieb noch genug Zeit. Sein Geld wartete am

– 26 –

Postamt Praterstern. So stand es auf der Benachrichtigung. Das war leicht zu schaffen, unter normalen Umständen. Unter normalen Umständen. Auf der Straße, die den Max-Winter-Platz umschloss, drehten wie jeden Tag Freier ihre Runden, als gäbe es bei den Huren einen Preisnachlass für besonders viele gefahrene Kilometer. Um zum Praterstern zu gelangen, benutzte Herb gewöhnlich die Wolfgang-Schmälzl-Gasse und danach die Ausstellungsstraße. Mit einem kleinen Extrabesuch in einer der Spielhallen des Wurstelpraters, wenn es die Zeit erlaubte. Heute – obwohl es die Zeit überhaupt nicht erlaubte – kam Herb nicht einmal dazu, die Wolfgang-Schmälzl-Gasse sicher zu überqueren. An der Ecke seines Hauses stand er unsicher und wagte sich nicht vor und nicht zurück. Franzi, eine Prostituierte, die diese Ecke seit Monaten mit Zähnen und Klauen vor den wegen des löchrig gewordenen Eisernen Vorhangs einsickernden sogenannten Osthuren verteidigte und die Herb – vom Sehen – kannte, hatte gleich eine passende Theorie parat. »Bist auf Acid?« Sie war ein Kind der Siebziger und kannte sich mit den Symptomen bestens aus. Herb drehte sich zu ihr und starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Er sagte nichts. »Geht’s dir gut?«, fragte Franzi und im selben Moment machte sie schon einen Sprung zur Seite, weil Herbs Magen jetzt doch Schnaps und Pizza los geworden war. »Hams dir ins Hirn geschissen, du Koffer? Kotzt mir fast auf die nagelneuen Schuhe! Schleich dich, du Arschloch!!! Geh weg! Vertreibst mir noch die Kundschaft, du Schwein! Des hat man davon, wenn man wem helfen will!« Es war ihre Ecke und nun würde ein Kunde erst einmal die Kotze überwinden müssen, wenn er mit ihr das Preis-Leistungs-Verhältnis ihrer Dienste diskutieren wollte. Herb war geschäftsschädigend. Franzi gab ihm einen Stoß und Herb stolperte, von diesem Impuls beschleunigt, doch noch auf die andere Seite der Straße.

– 27 –

Dabei stieß er ängstliche Schreie aus. Er sollte ihr eigentlich dankbar sein. »Was ist nur los mit mir?« Er konnte sich seine eigenartigen Ausfälle nicht erklären. Während Franzi von ihrem Standplatz aus noch heftig über ihn schimpfte, schien die Welt vor und um ihn förmlich zu zerfließen. Die fahrenden Freier versanken jammernd samt ihren Autos in einem zähflüssigen grauen Strom. Ein durchlöchertes Trommelfell mag ja schlimm sein, aber konnte es derartige Halluzinationen hervorrufen? Man weiß ja: Im Ohr liegt der Gleichgewichtssinn. Wo genau und ob er wirklich liegt, wusste Herb nicht, aber er war dort irgendwo und provozierte. »Das erklärt vielleicht die Schwindelgefühle. Aber die Trugbilder?« Als Herbs Welt für einen Moment wieder so war, wie sie sein sollte, nämlich stabil und begreifbar, begann er zu laufen. Wenigstens bis zur Ausstellungsstraße. Er war nicht eben ein Konditionswunder, bei seinem Lebenswandel. Endlich an der Straßenbahnhaltestelle angekommen, dauerte es eine kleine Ewigkeit, ehe sich sein Puls so weit beruhigt hatte, dass gleichmäßiges Atmen wieder möglich war. Wertvolle Minuten schmolzen dahin. Und weit und breit keine Straßenbahn. Die große Uhr an der Kreuzung zeigte 11.53 Uhr. Es blieben also noch sieben Minuten, als Herb endlich in der Ferne die rote Tram ausmachen konnte. Er fluchte und bettelte und vielleicht fauchte er sogar ein Gebet in den Himmel. Er konnte heute wirklich jede Hilfe gebrauchen. Als sich die Bahn schließlich langsam näherte, halluzinierte sie Herb als einen großen, roten chinesischen Neujahrsdrachen, der sich – dem Mondkalender folgend zwei Monate zu früh – mit weit aufgerissenem Maul an ihn heranschlängelte. Seine gelben Augen funkelten, aber er war gut gelaunt. Das chinesische Neujahr war ja kein Grund, traurig dreinzuschauen. Auch die

– 28 –

vielen lustigen Menschen, die seinen schlangenartigen Körper trugen, lachten vergnügt und hießen Herb mit Gesten sich ihnen anzuschließen. Der trat aber verwirrt zurück. Er hatte keine Zeit für chinesischen Neujahrsklamauk. Gleich würde ihn die Straßenbahn an sein Ziel bringen. Also winkte er den Drachen aufgeregt weiter. »Haut ab hier!«, rief Herb wütend. »Ihr verstellt die Haltestelle! Hier fährt gleich meine Tram ein! « Der Drache schüttelte den Kopf und setzte seine Reise fort. Herb blieb allein an der Station zurück und starrte in die Richtung, aus der er die Straßenbahn jeden Moment erwartete. Aber da kam nichts. Er drehte seinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung und sah verwirrt zu, wie sich der vermeintliche Drache in eine der für Wien typischen roten Straßenbahnen zurückverwandelte und ihre Rücklichter hinter dem Nordbahnhof verschwanden. Herb wollte etwas sagen. Etwas, das seine Niedergeschlagenheit adäquat ausdrücken würde. Aber er fand keine Worte. Ob ihm die Hausärztin überhaupt noch helfen konnte? Die Post hatte inzwischen sicher schon zu. Sein Geld konnte er frühestens am Montag abholen, wenn er es denn dann schaffte, rechtzeitig dort zu sein. Er saß einsam auf der kalten Bank der Haltestelle und beobachtete die vorbeifahrenden Autos dabei, wie sie mit ihren Rädern tiefe Furchen in den graubraunen Schneematsch pflügten. Es vergingen wohl an die zwei Stunden, ehe sich für Herb wieder ein Fenster zur Realität öffnete. Alle fünf bis zehn Minuten hielt eine weitere Straßenbahn und die aussteigenden Menschen machten eine großen Bogen um diesen offenbar mit Drogen vollgepumpten, heruntergekommenen Typen. Jene, die sich an der Haltestelle einfanden, weil sie den nächsten Zug in Richtung Zentrum nehmen wollten, rümpften die verschnupfte Nase oder schüttelten aus sicherer Entfernung angewidert den

– 29 –

Kopf. Herb bemerkte sie nicht. Ihre boshaften Kommentare konnte er wegen der Orgelmusik in seinem Kopf nicht hören. Bach spielte das Präludium nun schon zum hundertsten Mal. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts. Ab und zu riss er seine Arme vor das Gesicht, als wollte er sich vor einem Angriff schützen. Ein Verrückter war er, für alle, die sich für normal hielten. Nach Meinung der echten Wiener, derer es nach Meinung der echten Wiener schon viel zu wenige gab, sah man in jüngster Zeit viel zu viele Verrückte frei herumlaufen. Die jüngste Zeit war eben viel zu liberal. Das hätte es früher nicht gegeben. Das war schon mal anders. Und sie fühlten sich schließlich wie kleine Sieger, als Herb mit einem Mal von der Bank aufsprang und die WolfgangSchmälzl-Gasse zurück in Richtung Max-Winter-Platz spazierte, als wäre nie etwas passiert. Das Stück Realität, das sich gerade wie ein flüchtiges Hoch zwischen zwei mentale Schlechtwetterfronten schob, gestattete Herb, halbwegs schnell und ohne weitere Komplikationen die paar hundert Meter bis nach Hause zurückzulegen. Franzi war wohl gerade mit einem Freier unterwegs oder erholte sich in ihrem Stammcafé vom Ungemach, das ihr Herbs Auswurf bereitet hatte. Ihr Standplatz war verwaist. Nur die halb verdaute Pizza klebte noch auf dem Asphalt. Den geplanten Arztbesuch hatte Herb schon vergessen, ebenso wie sein Versprechen, bei seiner Nachbarin, Frau Laner, anzuklopfen. Als er sicher in seiner Wohnung angekommen war, legte er nur noch ein vertrautes Video in seinen VHS-Player und sich selbst auf sein altes Sofabett. Der Tag hatte noch nichts Gutes für ihn zu bieten gehabt. Mit diesem Film wollte Herb sein Schicksal endlich in bessere Bahnen lenken.

– 30 –

04

Sie musste wieder eingeschlafen sein, denn als Janis zu sich kam, waren ihre Fesseln so weit gelockert, dass sie ihre Hände und Füße davon befreien konnte. Es schien, als hätte Janis einen unsichtbaren Verbündeten. Auch die Zellentür stand einen Spalt offen, sodass ein schmaler Streifen Ganglicht es schaffte, auf den kalten Steinboden ihrer Zelle zu fallen und Janis den ersehnten Ausgang in die Freiheit zu markieren. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte vermutlich auch die Blumen an ihr Bett gebracht. Um etwas Dankbarkeit zu zeigen, nahm sie das Johanniskraut aus der Vase und steckte es in die Tasche der grauweiß-gestreiften Gefängnisjacke, die man ihr angezogen hatte. Vorsichtig schlich sie sich an die Tür heran. Es konnte auch eine Falle sein. Janis riskierte einen Blick durch den Spalt auf den Flur. Quadratische senfgelbe Fliesen für den Boden, bläulich-grüne quadratische Fliesen an der Wand. Alle paar Meter sorgte eine schmucklose Neonröhre für grelles, kaltes Licht. »Geschmacksdesaster!«, kam es Janis in den Sinn. Es schien in der einen Richtung keine Wachen zu geben, also wagte es Janis, den Kopf weiter rauszustrecken und die andere Seite des schmalen Ganges zu inspizieren. Auch nichts. Sie war allein. Der Flur musste schier endlos sein, denn trotz des gleißenden Neonlichtes konnte man nach beiden Seiten kein Ende ausmachen. Janis entschied sich, nach links zu gehen, besser gesagt, sie schlich nach links mit dem Rücken die Fliesenwand entlang. Zuerst nur ein paar Schritte auf Zehenspitzen, dann immer schneller werdend, bis sie schließlich lief, so schnell sie konnte, zuversichtlich, einen Ausgang zu finden.

– 31 –

Von Weitem schon sah sie die Tür. Das Licht im Raum dahinter war wärmer, soweit konnte man sich das durch die Milchglasscheibe vorstellen. Je näher Janis der Tür kam, umso größer wurde ihre Hoffnung auf Freiheit. Und als sie dieser Freiheit bis auf ein, zwei Meter nahe gekommen war und schon ihre Hand ausstreckte, um mit ihr den Türknauf zu fassen, erstarrte sie erschrocken und duckte sich aus dem Türbereich in die Ecke. Sie versuchte den Atem anzuhalten, um nicht entdeckt zu werden. Doch ihre Lungen verlangten nach dieser Aufregung dringend nach Sauerstoff. Janis kämpfte dagegen an. Jeder einzelne Atemzug schien ihr zu laut und mochte die Wachen alarmieren, deren Schatten sie durch die Scheiben schemenhaft erkennen konnte. Man hörte sie etwas murmeln, dann ein gehässiges Lachen, dann war es ihr, als stritten sie. Die Wachen schienen betrunken und aggressiv. Es war nicht ratsam, ihnen zu begegnen, und es war wohl aussichtslos, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen. Der Türknauf drehte sich. Jeden Moment würde einen Wache durch die Tür treten und sie dahinter kauernd entdecken. Ängstlich trat Janis den Rückzug an. Behutsam und lautlos setzte sie ihre Schritte, um nur ja kein Geräusch zu verursachen, bis sie meinte, genügend Abstand zwischen sich und die Gefahr gebracht zu haben. Dann rannte sie los. In diesem Moment entdeckte sie die Wache. »Halt! Bleib stehen!«, schrie er ihr nach. »Sofort stehen bleiben!« ENDE der LESEPROBE

– 32 –

Get in touch

Social

© Copyright 2013 - 2024 MYDOKUMENT.COM - All rights reserved.