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Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft | Band 66/2017
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Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft Im Auftrage der Theodor-Storm-Gesellschaft herausgegeben von Dieter Lohmeier

Band 66/2017

BOYENS

Storm-Porträt auf dem Umschlag: Rötelzeichnung von Albert Johannsen, Husum (1972), nach dem Ölgemälde von Nicolai Sunde (Heiligenstadt 1857). Die Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft erscheinen jedes Jahr im September zur Storm-Tagung in Husum. Manuskriptsendungen bitte bis Ende November des Vorjahres an die Theodor-Storm-Gesellschaft: [email protected] (Postanschrift: Wasserreihe 31–35, 25813 Husum). Über die Veröffentlichung entscheiden die Herausgeber gemeinsam mit einem Redaktionsausschuss des Präsidiums. Hinweise für die Manuskriptgestaltung: Dateiformat: .doc- oder .docx-Datei; Umfang: Aufsätze sollten in der Regel 30.000 bis 50.000 Zeichen umfassen (inkl. Leerzeichen), Rezensionen 4.000 bis 7.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen); Literaturangaben erfolgen ausschließlich in Fußnoten. Weitere Hinweise zur Manuskriptgestaltung erhalten Sie auf Nachfrage über das Theodor-Storm-Zentrum in Husum (Anschrift s.o.).

ISSN 0082-3820 ISBN 978-3-8042-0955-8 © 2017 Boyens Buchverlag GmbH & Co., Heide Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany

Inhalt Karl Ernst Laage (9. Juni 1920 − 11. Juli 2017) 5

Aufsätze Andreas Blödorn: Doppelgänger, Geisterseher. Figuren der Spiegelung und Wiederkehr bei Theodor Storm David A. Jackson: Ole Peters und die Schuldfragen im Schimmelreiter Erk F. Hansen: Intertextuelle Spurensuche. Zu Theodor Storms Novellenfragment Die Armesünder-Glocke (1888) Hans Krah: Puppenspielkonfigurationen. Die Pole Poppenspäler-Verfilmungen von 1935, 1954, 1968 und 1989 Marianne Wünsch: »der modernste aller Poeten« (Th. Storm). Die komplexe Psychologie der Figuren in Hebbels Dramen

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Buchbesprechungen Theodor Storm in Husum / Text:Jochen Missfeld und Christian Demandt; Photographien: Angelika Fischer. Berlin: Edition A.B. Fischer, 2016 (Menschen und Orte). 32 Seiten. (Heiner Egge)

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Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Eine kommentierte Leseausgabe. Herausgegeben und erläutert von Gerd Eversberg. Mit den Radierungen von Alex Eckener. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2015. (Jean Lefebvre)

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Knecht Ruprecht von Theodor Storm mit Bildern von Klaus Ensikat, Berlin: Kindermann Verlag 2016. (Miriam J. Hoffmann)

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Gerd Eversberg: Mit Theodor Storm auf Sylt. Erkundungen auf den Spuren des Dichters. Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2016. (Jean Lefebvre)

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Karl Ernst Laage: Theodor Storm zum 200 Geburtstag. Aufsätze, Untersuchungen, Dokumente. Heide: Boyens 2017. (Heinrich Detering)

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Aus der Theodor-Storm-Gesellschaft Storm-Bibliografie (Elke Jacobsen) Storm-Forschung und Storm-Gesellschaft (Christian Demandt)

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Karl Ernst Laage bei der Vorstellung seines letzten Buches im Stormhaus am 30. März 2017. (Foto: Susanne Laage)

Karl Ernst Laage (9. Juni 1920 – 11. Juli 2017)

Dieter Lohmeier

Einen Monat nach Vollendung seines 97. Lebensjahres ist Karl Ernst Laage friedlich in seinem Haus in Husum gestorben. Damit ist ein halbes Jahrhundert der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Leben und Werk Theodor Storms und der Bemühung um die Bewahrung und Erschließung dieses Erbes zu Ende gegangen. Auch für die Theodor-Storm-Gesellschaft bedeutet dieser Tod das Ende einer Epoche von fünfzig Jahren, denn von 1966 bis 1991 war Laage ihr Sekretär, danach bis 2003 ihr Präsident und seitdem ihr Ehrenpräsident. Karl Ernst Laage wurde in Kiel geboren und besuchte dort die Schule. Nach dem Abitur konnte er 1939 ein Studium an der Pädagogischen Hochschule beginnen, musste es aber schon nach wenigen Monaten wieder abbrechen, weil er als Soldat eingezogen wurde. Er machte den ganzen Krieg mit und geriet an dessen Ende in russische Gefangenschaft, aus der er erst in den letzten Dezembertagen des Jahres 1950 entlassen wurde. Er gehörte also zu jenen Männern, denen der Krieg wichtige Jahre ihrer Jugend raubte. Laage hat darüber später nicht geklagt, obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte. Er hatte es aber verstanden, selbst der Zeit von Gefangenschaft und Zwangsarbeit etwas Positives abzugewinnen, indem er Russisch lernte und sich mit der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vertraut machte. Als er 1951 sein Studium in Kiel wieder aufnehmen konnte, tat er das jetzt an der Universität mit den Fächern Klassische Philologie, Germanistik uns Slavistik. 1954 legte er das Staatsexamen für das höhere Lehramt ab, und 1956 folgte die Promotion. Für seine Dissertation hatte er ein zeittypisches Thema gewählt: den Friedensgedanken in der augusteischen Dichtung. Als Lehrer für Latein und Deutsch kam Karl Ernst Laage 1957 nach Husum an die Hermann-Tast-Schule, an der er bis zu seiner Pensionierung 1985 tätig war, in den letzten Jahren als Direktor. Husum war Laage seit seiner Kindheit vertraut, weil dort seine Großeltern und seit der Ausbombung in Kiel auch seine Eltern lebten. Carl Laage war seit 1950 Sekretär der Theodor-Storm-Gesellschaft und verstand es nun, seinen Sohn für den Dichter und für die Bemühungen um die Pflege seines Erbes zu interessieren. So wurde Karl Ernst Laage nun mehr und mehr zum Germanisten. 1962 hielt er bei der Jahresversammlung der Gesellschaft den Festvortrag über Storm und Iwan Turgenjew, und als sein Vater Ende des Jahres 1965 starb, wurde er zunächst kommissarisch dessen Nachfolger als Sekretär der TheodorStorm-Gesellschaft und dann einige Monate später von der Mitgliederversammlung in dieses Amt gewählt. 5

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Dass Laage dafür vorzüglich gerüstet war, zeigte sich, als die Gesellschaft 1967 den 150. Geburtstag Storms beging: Sie veranstaltete das erste wissenschaftliche Symposion, das Laage vorbereitet und für das er Referenten aus der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, den USA, Belgien, Frankreich, Italien, Australien und Japan gewonnen hatte. Die Vorträge brachte er 1968 unter dem Titel »Wege zum neuen Verständnis Theodor Storms« als 17. Band der »Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft« zum Druck. Den 16. Band hatte er selbst zum Jubiläumsjahr vorgelegt: »Theodor Storm und Iwan Turgenjew. Persönliche und literarische Beziehungen, Einflüsse, Briefe, Bilder«. Damit hatte er zum ersten Mal Storm in den großen Zusammenhang der europäischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts gestellt. Zu den Verdiensten Laages um die Würdigung des 150. Geburtstags von Theodor Storm zählte auch noch die Tatsache, dass er die Beschäftigung mit dem Dichter und seinem Werk auf eine wesentlich verbesserte Grundlage stellte, indem er eine Reihe von kritisch edierten und kommentierten Ausgaben von Briefwechseln Storms begründete. Clifford Albrecht Bernd eröffnete sie 1969 mit dem ersten Band des Briefwechsels zwischen Storm und Paul Heyse, und Laage selbst brachte 1972 den ersten Band des Briefwechsels zwischen Storm und Erich Schmidt heraus. Die Internationalität der Redner beim Symposion 1967 war kein Zufall, sondern Programm. Laage selbst sprach über »Theodor Storm und seine Vaterstadt«, fügte dieser Überschrift aber den Untertitel hinzu: »Ein Beitrag zum Neuverständnis des Dichters«. Der Ausgangspunkt seiner Ausführungen war die Überzeugung, dass die »bis zum Überdruß« wiederholte Betonung der Heimatverbundenheit Storms sich teilweise verhängnisvoll auf das Verständnis seines Werks ausgewirkt habe. »Denn wer immer nur die engen Beziehungen Storms zu seiner Heimatstadt betont, entgegengesetzte Tendenzen aber in den Hintergrund drängt oder unbeachtet läßt, der rückt Storm in gefährliche Nähe zu dem schollenverbundenen Heimatdichter, den eine hinter uns liegende Epoche suspekt gemacht hat, eine Klassifizierung übrigens, die ein so streitbarer Demokrat und Preußenhasser wie Storm nun wirklich nicht verdient hat, die aber gleichwohl immer wieder vorgenommen wird.« Ein Jahr nach seiner Wahl zum Sekretär der Theodor-Storm-Gesellschaft bezeichnete Karl Ernst Laage damit den Leitfaden seiner Tätigkeit in diesem Amt während zweieinhalb Jahrzehnten. Dass es ihm in der Tat gelang, Storm in größere Zusammenhänge zu stellen und zugleich damit die Internationalität der Gesellschaft dauerhaft zu sichern, war Laages Offenheit, seiner Begabung zur Freundschaft, seinem pädagogischen Geschick und der Solidität seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu verdanken. Trotz seiner Bemühungen, Storm vom Odium der Heimatdichtung zu befreien, trug Laage doch ganz entscheidend dazu bei, seine Verbindung mit 6

Ka rl Er nst Laage ( 9 . J un i 1 9 2 0 – 1 1 . J ul i 2 0 1 7 )

Husum unübersehbar sichtbar zu machen: Als sich die Möglichkeit ergab, das Haus in der Wasserreihe, das Storm von 1866 bis 1880 bewohnt hatte, zu erwerben, gewann er in Zusammenarbeit mit Bürgermeister Ernst Schlüter das Präsidium der Gesellschaft und den Magistrat der Stadt für den Plan, das Haus in den Besitz der Stadt Husum zu holen und in ihm ein von der Theodor-Storm-Gesellschaft getragenes Museum einzurichten. Die Voraussetzungen dafür waren günstig, weil seit Storms Weggang aus Husum an seinem Wohnhaus keine gravierenden baulichen Veränderungen vorgenommen worden waren, aber das Haus war zunächst nur eine leere Hülle. Dank seiner Verbindungen mit den Nachkommen Storms in Husum und in anderen Orten Deutschlands, durch seine Fähigkeit geduldig abzuwarten und dank seiner gründlichen Kenntnis der schriftlichen und bildlichen Quellen von Storms Leben gelang es Laage jedoch, das Haus in der Wasserreihe so weit mit originalen Gegenständen und Fotoreproduktionen zu füllen, dass es 1972 als Museum eröffnet werden konnte. Bei der Vorbereitung und beim Ausbau des Museums hatte er manche schönen Erfolge. So konnte Laage nachweisen, dass das Tafelklavier, das in der Familienüberlieferung als ein Geschenk von Storms Vater an seinen Sohn und seine Schwiegertochter galt, in der Tat dasjenige war, das Johann Casimir Storm 1858 nach Heiligenstadt hatte liefern lassen. Es steht heute also mit vollem Recht in Storms Wohnzimmer in der Wasserreihe. Und im Zusammenspiel mit dem juristischen Sachverstand von Christoph Bernhard Schücking, dem Präsidenten der Gesellschaft, gelang es auch, den Kauf des Schreibtischs für das Stormhaus zu ermöglichen, den Kieler Damen dem Dichter 1888 zum siebzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Dass das Museum mit den bescheidenen finanziellen Mitteln der Theodor-StormGesellschaft betrieben und mit Leben erfüllt werden konnte, ist nicht zuletzt der Gabe Karl Ernst Laages zu verdanken, fest angestellte und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für ihre Tätigkeit zu gewinnen und zu motivieren. Ohne diese Helferinnen und Helfer und – nicht zu vergessen – ohne den Rückhalt bei seiner Frau Heinke hätte es auch einem Mann mit der Arbeitskraft Laages nicht gelingen können, mehrere Jahrzehnte lang so viel für das Erbe Theodor Storm und seine Pflege zu tun. Karl Ernst Laage dachte schon früh daran, den Bänden mit den wissenschaftlichen Ausgaben von Storms Briefwechseln auch eine Studienausgabe der Werke Storms an die Seite zu stellen. Er trug diesen Plan im Präsidium der Gesellschaft vor, fand dort Zustimmung und begann Gespräche mit dem Hanser-Verlag, aber diese blieben erfolglos. Laage ließ sich jedoch nicht entmutigen, sondern nahm einige Jahre später die Verbindung mit dem neu gegründeten Deutschen Klassiker Verlag auf. Das führte zum Erfolg. Laage und ich teilten uns die Arbeit, und so konnten bis zum 100. Todestag Storms im Jahre 1988 Sämtliche Werke Storms in vier Bänden er7

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scheinen. Sie waren die ersten Werkausgabe des Verlags, die abgeschlossen vorlag. Zehn Jahre später gelang es Karl Ernst Laage als Präsidenten der TheodorStorm Gesellschaft, in Zusammenarbeit mit Gerd Eversberg, seinem Nachfolger im Amt des Sekretärs, und mit Hilfe des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums sowie der Kulturstiftung der Länder das größte Konvolut von Handschriften Storms nach Husum zu holen, das seit der Erwerbung seines Nachlasses für die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek 1937 aufgetaucht war. Es stammte aus dem Besitz von Storms Sohn Ernst. Während der Nachlass in Kiel die Reinschrift des Schimmelreiters mit Storms Notiz »Für Ernst« enthält, liegt jetzt in Husum die erste Niederschrift der Novelle, die bis dahin völlig unbekannt war. Die jahrzehntelange ehrenamtliche Arbeit Laages für die Pflege von Storms Erbe war sehr erfolgreich. Die Theodor-Storm-Gesellschaft hatte 1966, als er zum Sekretär gewählt wurde, etwas weniger als 500 Mitglieder; als er 2003 als Präsident zurücktrat, waren es etwa 1400. Auch öffentlich wurden Laages Verdienste gewürdigt: 1979 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen, 1985 ernannte ihn die Philosophische Fakultät der Universität Kiel zum Honorarprofessor und 1995 die Stadt Husum zu ihrem Ehrenbürger; zuletzt erhielt er 2015 den Hans-Momsen-Preis, mit dem der Kreis Nordfriesland besondere Verdienste um die Kultur der Region auszeichnet. Auch nach seinem Abschied aus den Ämtern des Sekretärs und des Präsidenten der Theodor-Storm-Gesellschaft blieb Karl Ernst Laage bis zuletzt bewundernswert aktiv. Wenn auch die Kräfte des Körpers allmählich nachließen, blieb doch der Kopf völlig klar. Er hatte immer Pläne für weitere Arbeiten, packte sie an und schloss sie auch ab. So konnte er – auch dank der erprobten freundschaftlichen Zusammenarbeit mit Bernd Rachuth, dem Leiter des Boyens Buchverlags – rechtzeitig die Aufsatzsammlung »Theodor Storm zum 200. Geburtstag« herausbringen. Wer ihn persönliche kannte und schätzte, dürfte sich jetzt darüber freuen, dass es Karl Ernst Laage vergönnt war, sein letztes Buch am 30. März im Stormhaus selber der Öffentlichkeit vorzustellen. Dieter Lohmeier

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Doppelgänger, Geisterseher Figuren der Spiegelung und der Wiederkehr bei Theodor Storm Andreas Blödorn, Münster/Westf. Karl Ernst Laage in memoriam Ob in Eine Halligfahrt (1871), Renate (1878) und Eekenhof (1879), in Schweigen (1883), Ein Bekenntnis (1887), Ein Doppelgänger (1887) oder im Schimmelreiter (1888): Nicht erst in Storms späten Erzählungen, dort aber unübersehbar begegnen wir Geistern und Gespenstern, unterminieren Figurationen von Spuk, von Unheimlichem und von ›Spökenkiekern‹ die vordergründig realistisch erzählten Welten.1 Der folgende Beitrag geht diesen Phänomenen als Spiegelfiguren nach, die das Verhältnis von realistisch erzählten Geschichten und ihrer brüchig gewordenen Realitätskonzeption innerhalb der dargestellten fiktionalen Welten verunsichern, indem sie den Blick auf die Realität verdoppeln und reflektieren. Als Doppelgänger und Geisterseher haben diese Figuren eine »narratologische Funktion«,2 destabilisieren sie die nur scheinbar festgefügte Realität der Erzählungen in ihren konstitutiven Grundfesten von Zeit und Raum. Welche Rolle aber spielt dabei das Projektionsverhältnis des »doppelten Blicks«3 auf Spiegelbild und Urbild, auf zurückgeworfene Außenansicht und die fraglich gewordene Innen(an)sicht? Und welche Funktion weisen die Texte der Rolle des Erzählens für die Vermittlung von realistischer und unheimlicher Sphäre dabei zu? 1. Gespenstige Figuren Am 4. August 1882, Storm ist soeben von einer Reise nach Toftlund in sein Haus in Hademarschen zurückgekehrt, schreibt er an Gottfried Keller, von Eindrücken seiner Reise berichtend: »[H]ier an der Grenze Nordfrieslands, wie in Schottland, [befinden] [wir] uns in der Heimath des zweiten Gesichts«.4 Storm kommt dann auf sein Verhältnis zum Spuk- und Gespens  1 Vgl. dazu auch die Beiträge von Philipp Theisohn und Karl-Ernst Laage sowie das Gespräch zwischen Heinrich Detering und Tilman Spreckelsen über den „realistische[n] Geisterseher Storm“ in den Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 63 (2014).   2 Philipp Theisohn: Spökenkieken. Storm und das Wissen der Geister, in: STSG 63 (2014), S. 23-39; hier S. 26.   3 Vgl. ebd.   4 Theodor Storm – Gottfried Keller. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. v. Karl Ernst Laage, Berlin: Erich Schmidt 1992, S. 92. 9

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terwesen und zum Übernatürlichen zu sprechen – ein Verhältnis, das sich in seinem Spätwerk der 1880er Jahre, so meine Ausgangsthese, trotz seines lebenslangen aufgeschlossenen und zugleich doch aufgeklärten Interesses daran noch einmal grundlegend ändert – und zwar in Bezug auf die poetologische Funktion der derart literarisch in den Blick genommenen Spukphänomene. Auffällig ist zunächst eine sich in seinen Erzählungen mehrfach wiederholende Beschreibung der Geistererscheinung, wie sie auch in den Schimmelreiter, Storms 1888 letzte vollendete Novelle, eingeht. Der Erzähler des Binnenrahmens begegnet dort dem ›gespenstigen Reiter‹ in einer Sturmnacht auf dem Deich, als dieser zweimal, unheimlich und geräuschlos, dicht an ihm vorbeijagt: Ich »glaubte«, so heißt es von dieser Begegnung, »eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an« (LL 3, 636). Diese Geistererscheinung, so wird zu zeigen sein, ist auch ein literarischer Wiedergänger, der uns in Storms Werk wiederholt begegnet. Zu den unheimlichen und für den Erzähler angstbesetzten Figuren in Storms Erzählwerk gehört neben dem gespenstigen Reiter auch jenes »Schreckbild« (LL 3, 529), das durch die Kindheitserinnerungen Christines, der Tochter des armen Zuchthäuslers John Glückstadt in Storms Novelle Ein Doppelgänger spukt. Jenes »Schreckbild«, so insinuiert der Binnenerzähler der Novelle, stelle aber nur die eine, gewalttätige Hälfte seines doppelgängerischen Wesens dar, eine Wesenshälfte, die seine Tochter später nicht mit jener zweiten Erinnerung an ihren so liebevoll-fürsorglichen Vater zusammenbringen kann. Übersinnlich, elfenhaft, ätherisch schließlich tritt uns schließlich auch in Storms Novelle Ein Bekenntnis jene Figur entgegen, die der Binnen-Ich-Erzähler Franz Jebe geheiratet und durch einen frühen Krebstod wieder verloren hatte: Else Füßli, die ihrem Mann nicht nur bereits in einem »Nachtgesicht« (LL 3, 587), einer Traumvision seiner Kinderzeit viele Jahre zuvor, erschienen war, sondern die uns überdies als Nachfahrin Heinrich Füsslis präsentiert wird – jenes Schweizer Künstlers, »dem zuerst die Darstellung des Unheimlichen in der deutschen Kunst gelang« (LL 3, 592). So wird das real gewordene »Nachtgesicht« Elsi bei Storm zu einer Figur, die sich einer unmittelbaren Wirklichkeitswahrnehmung zunehmend entzieht – und dabei mehr und mehr dem Bereich des Unheimlichen, Übersinnlichen und Traumhaften angenähert erscheint. Figurenpaare wie Franz Jebe und Else Füßli in Ein Bekenntnis, wie der gespenstige Reiter und der Binnenerzähler im Schimmelreiter, der diesen sieht (und wie auch die beiden Knechte, die dort aus Knochen auf Jeverssand den spukenden Geist des Pferdes auferstehen sehen), oder wie das Bild des doppelgängerischen Vaters John Glückstadt alias John Hansen in 10

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Ein Doppelgänger: sie stellen bei Storm allesamt Figurationen der Spiegelung im Raum dar. Zugleich sind diese Doppelgänger und Geisterseher mit Figurationen der Wiederkehr – mithin des Wiedergängerischen in der Zeit – verbunden, in Ein Bekenntnis ebenso wie im Schimmelreiter, in Ein Doppelgänger ebenso wie in der Novelle Schweigen. Raum und Zeit, die grundlegenden Wirklichkeitskonstituenten der Realität, werden dafür nachhaltig in Frage gestellt. Mit den vielfach variierten Figurationen von ›Spiegelung‹ und ›Wiederkehr‹ umkreist Storm in den 1880er Jahren folglich Phänomene des Spukhaften und rational Unerklärbaren, das Kunde zu sein scheint von einer ›höheren‹, übergeordneten oder ›hinter‹ der wahrnehmbaren Realität stehenden Sphäre, die in allen Fällen stets mit ›Tod‹ (oder Todesgefahr) korreliert ist. So hat auch Philipp Theisohn darauf hingewiesen, dass Geisterwissen bei Storm »in aller Regel ein Schwellenwissen ist, das zwischen den Lebenden und den Toten vermitteln muss«.5 Für Storm jedoch sind »diese Dinge«, wie er Gottfried Keller gegenüber äußert, aufs engste mit seiner Heimat, der von ihm charakterisierten »Heimath des zweiten Gesichts« verbunden. In jenem Brief an Keller erläutert er: Ich stehe diesen Dingen im einzelnen Falle zwar zweifelnd oder gar ungläubig, im Allgemeinen dagegen sehr anheimstellend gegenüber; nicht daß ich Un- oder Uebernatürliches glaubte, wohl aber, daß das Natürliche, was nicht unter die alltäglichen Wahrnehmungen fällt, bei Weitem noch nicht erkannt ist.6

Storms Formulierung ist Ausdruck einer das Denken des späten 19. Jahrhunderts maßgeblich verändernden Vorstellung, die qualitativ-disjunkt abgrenzbare Wissensbereiche (›Natur‹ vs. ›Un‹- oder ›Über-Natur‹) einer zunehmend quantitativ-skalierenden Differenzierung eines Mehr oder Weniger (an ›Natur‹ bzw. ›Nicht-Natur‹) unterwirft – und das Denken somit insgesamt in Bewegung bringt:7 Zwar wird das ›Un‹- oder ›Übernatürliche‹ explizit nicht geglaubt, das ›Natürliche‹ aber andererseits in seinem Verständnis und Umfang in Richtung ›nicht-natürlicher‹ Phänomene ausgeweitet und sein Realitätsstatus damit in Frage gestellt. So konstatiert Storm sehr wohl, dass es auch in unserer ›natürlichen‹ Welt Unerklärbares, schein  5 Theisohn 2014 (wie Anm. 2), S. 33.   6 Theodor Storm – Gottfried Keller. Briefwechsel (wie Anm. 4), S. 92.   7 Vgl. Michael Titzmann: ‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatur-systeme ‚Realismus’ und ‚Frühe Moderne‘, in: Hans Krah/ClausMichael Ort (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen, Kiel 2002, S. 181-205; sowie Jürgen Links Analyse protonormalistischer Diskursverschiebungen im 19. Jahrhundert, u. a. in: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3. Aufl. Göttingen 2009. 11

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bar ›Nicht-Natürliches‹ gibt – eben das, »was nicht unter die alltäglichen Wahrnehmungen fällt«. Diese hier brieflich erprobte Denkfigur ist es, die uns auch in Storms später Novellistik der 1880er Jahre in ihrer unentscheidbaren Ambivalenz zwischen rationalem Vernunftglauben und irrationalem Aberglauben, zwischen Realitätswahrnehmung und Übernatürlichem (Spuk- und Geisterwesen) immer wieder begegnet. Moderner Wirklichkeitserfahrung vorgreifend, macht Storm mit »diesen Dingen« darauf aufmerksam, dass es hier zuallererst um ein Wahrnehmungsproblem geht, das stets auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit des Wahrnehmenden stellt. Ist dem Ich-Erzähler, der dem Schimmelreiter begegnet, in seiner Wahrnehmung überhaupt zu trauen? Existiert der Doppelgänger John Glückstadt nicht eigentlich nur in der Wahrnehmung seiner sich zurückerinnernden Tochter? Und ist Franz Jebes hellseherische Traumvision von seiner künftigen Ehefrau nicht eigentlich nur seine rückblickende, idealisierende Wunschprojektion? Nun ist Storms Interesse für Gespenster, Spuk und Übernatürliches nicht erst im Spätwerk der 1880er Jahre anzutreffen, sondern reicht bekanntlich bis in seine Jugendzeit zurück. Das in den 1840er Jahren entstandene, von Storm nie veröffentlichte und von Karl Ernst Laage 2011 edierte Neue Gespensterbuch zeigt mit seiner Sammlung von Spuk- und Gespenstergeschichten die große Bandbreite der Phänomene, mit der Storm »Beiträge zur Geschichte des Spuks« liefern wollte, darunter Erzählungen vom zweiten Gesicht, von Traumvisionen und Vorahnungen, von Spuk- und Gespenstererscheinungen, Geisterbeschwörungen und allerlei Unerklärbarem wie unvermittelt eintreffende Prophezeiungen oder sich scheinbar bewahrheitender Aberglaube. Auch eine Geschichte ist darunter, die wie Storms spätere Novelle den Titel Ein Doppelgänger trägt. Wenn auch die erzählte Geschichte selbst aus anderer Perspektive auf das Phänomen der Spaltung eines Menschen in sich selbst blickt, so ist doch der einleitende Passus aufschlussreich für Storms spätere novellistische Bearbeitung des Themas. Die Geschichte beginnt, dieselbe ambivalente Denkfigur vorprägend wie Storms briefliche Äußerung an Keller sie dann später variiert: »Kein menschlicher Verstand hat noch je den wunderbaren Zusammenhang der Geisterwelt mit unserer sinnlichen zu erklären und Keiner ihn ganz abzuleugnen vermocht.«8 Nicht erklärbar, aber auch nicht gänzlich abzuleugnen, bleibt schon in diesem frühen Doppelgänger-Text die Verbindung zwischen Geisterwelt und physikalischer Natur als ein Problem bestehen, das den menschlichen Verstand an seine Grenze führt. So schließt die Erzählung   8 Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storms Neues Gespensterbuch. Beiträge zur Geschichte des Spuks, Heide: Boyens 2011, S. 20. 12

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Abb. 1. Carl Blechen: Dämonische Landschaft (um 1826) Schweinfurt, Sammlung Georg Schäfer

mit den Worten: »dunkel ist und bleibt der Vorhang, der die Geheimnisse vom Jenseit deckt.«9 Vor diesem Hintergrund geben sich Doppelgänger und Geisterseher bei Storm als Figurationen der Spiegelung und der Wiederkehr eines auf der Grenze zum Jenseits angesiedelten, höchst subjektiven Wahrnehmungsproblems im jeweiligen Hier und Jetzt der entworfenen fiktionalen Realität zu erkennen. Was aber hat Storm an dieser ambivalenten Realitätswahrnehmung und am Unheimlichen, am Spukhaften, am Geister- und Gespensterwesen so nachhaltig interessiert? 2. Storms Interesse am Unheimlichen und Spukhaften Ein erster Hinweis findet sich beim Maler und Schriftsteller Ludwig Pietsch, der Storm 1855 in Berlin beim Betrachten eines Gemäldes von Carl Blechen in der Kunstakademie beobachtet hat. Ebenso wie Storm, der das Bild lange mit seiner Frau Constanze betrachtete, war Pietsch von dem Gemälde ergriffen, das ihm einen »kalte[n] Schauer den Rücken herab« rieseln ließ.10 Bei diesem Gemälde dürfte es sich um Blechens um 1826 entstandene Dämonische Landschaft (Abb. 1) gehandelt haben – auch wenn Pietsch aus dem Jahrzehnte später berichtenden Rückblick seiner Erinnerungen aus den Fünziger Jahren (1893) das Gemälde nicht ganz korrekt beschreibt: 13

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Es zeigt einen einsamen, dunkeln Waldsee, der von ungeheuren, kahlen Gebirgshöhen umgeben und wolkenhoch umragt wird. Ich weiß nicht, worin das Grauen eigentlich liegt, welches durch die Scenerie verbreitet ist und von ihr ausgeht. Jeder von uns empfand es. Die seltsame, spukhafte Staffage, welche völlig in dies Naturbild hineinpaßte, verstärkte nur jene Empfindung. Ganz im Vordergrunde, zwischen dem Gebüsch, entdeckt man ein seltsames Monstrum, einen Zwerg mit ungeheurem Kopf und stumpfsinnig, boshaftem Gesichtsausdruck; tiefer im Walde, an einer anderen Stelle des Seeufers, das kleine Figürchen eines Schützen, der auf dies gräuliche Gespenst anzulegen scheint, und, durch weiten Zwischenraum von jenem getrennt, das eines weiblichen Wesens, das angstvoll flehend die Arme gegen den Zielenden erhebt. Die eigentliche Absicht des Malers ist nichts weniger als klar ausgesprochen. Aber diese Unbestimmtheit verschärft nur noch den Charakter eines quälenden, beängstigenden Traumbildes, den das ganze Gemälde, darin jenen Tieckschen Erzählungen so ähnlich, trägt. Ich stand mit Lübke davor und redete mich mit ihm tiefer in die Stimmung hinein, in die uns das wundersame Werk unmittelbar versetzt hatte. Es war, als blickte uns bereits der Wahnsinn daraus an, der schon, als er es malte, um des Meisters Haupt seinen düsteren Fittich geschwungen zu haben schien. Ganz in unserer Nähe stand gleichfalls in die Betrachtung des Bilds versenkt und davon ersichtlich aufs Tiefste ergriffen und erregt, ein schlank gebauter, sich etwas gebückt haltender Herr von 38-40 Jahren. […] Aus dem leicht geröteten, von einem dünnen, blonden Bart auf den Wangen und unter dem Kinn umgebenen, mit einem nichts weniger als koketten und gepflegten Schnurrbart geschmückten Antlitz des Herren leuchteten ein paar blaue Augen mit ganz seltsamem, schwärmerischem Glanz, während er zu seiner schönen Begleiterin […] sprach. Lübke begrüßte ihn wie einen guten Bekannten […] und unterließ es, uns einander vorzustellen. Dieser war ganz Feuer und Flamme von dem Bilde. Das Romantisch-Dämonische, Grauenvoll-Spukhafte darin hatte eine sympathische Seite seinen eigenen Seele berührt und in starke Schwingungen versetzt. Ich gab meiner Ansicht von der ergreifenden Auffassung der Gebirgsnatur darauf Ausdruck in einigen Worten, die jenen lebhaft zu frappieren schienen. Er wiederholte sie mehrere Male und dankte mir, als wir uns trennten, noch besonders dafür: ich hätte genau das rechte Wort für das Unsagbare in dieser Landschaft getroffen. – Wer waren denn die? fragte ich Lübke, als wir weiter gingen. – „Was, Sie kennen ihn nicht?! Aber das war ja Theodor [Storm], Sie wissen, der ‚Immensee’ geschrieben hat, und seine Frau Constanze.“ – […] Oft haben wir uns beide [= Storm und Pietsch, A. B.] noch an jene erste Begegnung vor Blechens „Wahnsinnsbilde“ erinnert […].11

Blechens Gemälde ist als Paraphrase des 6. Auftritts im 3. Akt von Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz gedeutet worden: »Max schießt (von Samiel gelenkt) mit einer Freikugel auf eine weiße Taube, die in Wahrheit seine Braut Agathe ist« – doch dabei kommt der »am anderen Ufer hockende Kobold […] im ›Freischütz‹ nicht vor«.12 Was Blechens Gemälde

  9 Ebd., S. 22. 10 Ludwig Pietsch: Wie ich Schriftsteller geworden bin. Erinnerungen aus den Fünfziger Jahren, Berlin: Fontane 1893, S. 165. 11 Ebd., S. 165ff.; Hervorhebungen A. B. 12 Helmut Börsch-Supan: Gemälde, in: Peter-Klaus Schuster (Hg.): Carl Blechen. Zwischen Romantik und Realismus, München: Prestel 1990, S. 100–134 hier S. 104: 14

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daher in Szene setzt (und was Storm fasziniert haben mag), ist die veräußerlichte Darstellung von eigentlich innerpsychischem Geschehen: Als im Außenraum manifeste Figuren werden hier Kräfte sichtbar, die in der Person des Schützen von diesem Besitz ergreifen (so der Dämon, der dem Schützen im Nacken sitzt und der Kobold am anderen Ufer, der als im Wasser gespiegelte Figur das Geschehen beobachtet). Die im Unbewussten der Person sich vollziehende Entmächtigung des bewussten Selbst, der Kontrollverlust des Schützen, wird hier folglich darstellbar mittels der äußeren Übersetzung in dämonisch-spukhafte Figuren. In der gemalten Naturszene tritt das Grauen somit figurativ in Erscheinung: Allegorische Figurationen von in der Person wirkenden Kräften treten neben die als real konzipierten Personen des Schützen und seiner Braut und machen das Bild auf ambivalente Weise zu einer zugleich realen und irreal-phantastischen Komposition. Dass diese Szenerie um einen augenscheinlich tiefen See herum gelagert ist, mag Storm zusätzlich beeindruckt haben, steht in seinem Werk – wie im Realismus so häufig – tiefes Wasser doch stets für eine latente oder manifeste Todesdrohung (so etwa in Immensee, Auf dem Staatshof, Aquis submersus, Psyche, Eine Halligfahrt und Der Schimmelreiter; so auch schon 1845 in Stifters Der Hagestolz, 1855 in Paul Heyses L’Arrabbiata oder noch 1891 in Theodor Fontanes Unwiederbringlich). Es ist diese Verbindung von Dämonischem und Unbewusstem, so möchte ich vorschlagen, mit der dann vor allem der späte Storm das Spukhafte funktionalisiert und figurativ in Erscheinung treten lässt, um das Nebeneinander von ›realer‹ und ›phantastisch‹-geisterhafter Dimension im Raum anschaulich werden zu lassen; eine Ambiguisierung der Realitätsauffassung, die dann in Ein Bekenntnis die Realität als Ganzes in Frage zu stellen droht. Ferdinand Tönnies hat in seinen Gedenkblättern diese Vorstellung Storms explizit festgehalten, wenn er berichtet, dass »das Geister- und Gespensterwesen, der Spuk und Aberglaube« für Storm auch deshalb so interessant waren, weil er »der Ansicht zu[neigte], dass es noch unerkannte Kräfte der menschlichen Seele gebe, die hin und wieder in solchen Geschichten und Einbildungen ihr verborgenes Dasein offenbaren möchten«.13 Blechens Darstellungsverfahren ist Storms Erzählverfahren in dieser Hinsicht eng vergleichbar: als ein darstellerisches Projektionsverfahren, das Vorgänge, die im Inneren der Person von dieser Besitz ergreifen und sich – als aus dem Unbewussten kommende Kräfte – zunächst der Sprache ent-

13 Ferdinand Tönnies: Gedenkblätter. Theodor Storm zum 14. September 1917, Berlin: Karl Curtius 1917, S. 59. 15

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ziehen, im Außenraum sichtbar werden lässt.14 Eine vergleichbare Projektion von Innerpsychischem auf dämonische Figuren, wie sie Blechens Gemälde vornimmt, behandelt Storm – und zwar ebenfalls anhand eines Schützen – in seiner Novelle Schweigen. Der Protagonist Rudolph, der früh seinen Vater verloren hat und von seiner dominanten Mutter, der Forstjunkerin Fernande von Schlitz, groß gezogen wurde, ist gerade von einer psychischen Krankheit genesen, die ihn am Ende seiner Ausbildungszeit befallen hatte. Durch die Heirat mit einem »Hausfrauchen, heiter und verständig« (LL 3, 133) soll Rudolph auf Raten seines Arztes endgültig geheilt werden. Dies scheint auch recht bald zu gelingen; nicht ohne Zutun der Mutter verliebt sich Rudolph in Anna, eine schöne, blonde, heitere Pfarrerstochter und heiratet sie. Als Oberförster kann Rudolph nun mit seiner liebevoll-verständigen Frau ins Forsthaus einziehen, das Eheglück scheint perfekt. Die Sache hat jedoch einen Haken: Er hat, auf Drängen seiner Mutter, Anna seine frühere Krankheit verschwiegen. Dieses – titelgebende – Schweigen wird nun zu einer solchen Belastung, dass Rudolph sich immer mehr in sich zurückzieht, einen erneuten Ausbruch seiner Krankheit, ja sogar wahnsinnig zu werden fürchtet und schließlich Selbstmord begehen will. Im Wald sitzend, schon das Gewehr in der Hand, erkennt er jedoch im letzten Moment, dass er gar nicht krank ist, sondern lediglich unter der psychischen Last des Schweigens gegenüber seiner Frau gelitten hatte. Anna, die seinen Abschiedsbrief gelesen hat, jagt durch den Wald auf Rudolph zu. In dem Moment aber, als sie ihn glücklich umschlingt, löst sich aus dessen Gewehr ein Schuss: »[S]ie bog sich von ihm ab, sie stemmte ihre Hände gegen seine Schultern und sah ihn mit fast wilden Augen an. Da schrie er auf: ›Du blutest! Du bist getroffen, Anna!‹« (LL 3, 192) Doch er hat Glück, ihre Verletzung stammt lediglich von Dornen, die sie unterwegs gestreift hatten, und nach einer Erholungsphase können beide glücklich und befreit leben. Mit dem kurz darauf zur Welt kommenden Sohn ist die Familie schließlich perfekt. Wie auf Blechens Gemälde, auf dem der Schütze auf seine Braut zielt, so liegt auch zwischen Rudolph und Anna symbolisch ein tiefer ›See‹ und steht auch hier zwischen ihnen eine fremde Macht, die von Rudolph Besitz zu ergreifen scheint. Doch Rudolph erkennt am Ende, dass dies keine Macht ist, die aus seinem eigenen Innern, aus einem dem Wahnsinn geschuldeten Bewusstseinsverlust heraus entsteht, sondern vielmehr, dass er selbst diese psychische Krise durch äußere Anlässe mit verursacht hat – und sie deshalb auch selbst rückgängig machen kann. 14 In Immensee (1850) hatte Storm für eine solche Veranschaulichung innerpsychischer Motive noch symbolische Naturbilder verwendet – wie die Seerosen, in deren Gestrick sich Reinhard verfängt. 16

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Anna hingegen erkennt diesen Zusammenhang früh. Als Rudolph ihr von einer schwarzen Fliege erzählt, die »in dein Haus, in deine Kammer [kommt]; unhörbar ist sie da« (LL 3, 152), begreift sie dieses Todessymbol sofort als Figuration eines von Rudolph ins Äußere projizierten Problems psychischer Selbstwahrnehmung: »Du könntest einem bange machen, Rudolph; aber ich will diese schwarze Fliege fortjagen; denn sie kommt aus deinem Hirn und soll mir nicht dahin zurück; ich habe nie von diesem Spuk gehört.« (LL 3, 153) Die hier dezidiert als »Spuk« beschriebenen psychischen Probleme, die durch die Berichte von mehreren Parallelfällen in der Umgebung Rudolphs noch gesteigert werden, gestaltet Storms Novelle immer wieder in Form dämonischer Figurationen. So sei etwa der Hufschmied »von einem tollen Hund gebissen« worden (LL 3, 154). Das Wissen um diese Parallelfälle wird in Rudolph schließlich so übermächtig, dass sie ihm als Gespenster gegenübertreten und ihm die Grenze zwischen Realität und Spuk zu verschwimmen scheint. An seinem Schreibtisch grübelnd, steht plötzlich die rußige Gestalt des Schmiedes vor ihm; so dicht, die stierenden Augen und das verzerrte Antlitz lagen fast an dem seinen; ein leises höhnisches Gelächter fuhr ihm kitzelnd in die Ohren: »Dreizehn Jahre? [die der Schmied bis zu seinem Rückfall scheinbar geheilt gelebt hatte, A. B.] – Es kann auch früher kommen!« Deutlich hatte er das sprechen hören; er fühlte, wie sich das Haar auf seinem Haupte sträubte. Aber er hörte noch mehr: es jammerte, es wimmelte um ihn her; er war aufgesprungen und schlug mit beiden Armen um sich: »Fort!« schrie er; »fort, Gespenster!« (LL 3, 174).

»Aber«, so kommentiert der Erzähler, Rudolphs Realitätsverlust bestätigend, »er war doch nicht mehr allein in seinem Zimmer; die Geschöpfe seines Hirnes waren mit ihm da und wichen nicht« (LL 3, 175). Auch die Arbeit mag nicht mehr gelingen; beim Schreiben übernimmt plötzlich sein Unterbewusstes die Kontrolle über seine Feder, »verloren sich die Buchstaben in verworrenes Gekritzel«, aus der sich schließlich eine »symbolische Zeichnung« (LL 3, 176) herauskristallisiert: »ein Hundskopf, der sich wie gierig aus dem dicken Leib hervordrängte« – und daneben ein »Totenkopf« (LL 3, 176). Rudolph begreift dies unmittelbar als Figuration des in den Tod führenden Wahnsinns, als äußerliche Gestaltwerdung eines innerpsychischen Selbstverlusts – und als Prophezeiung seines eigenen Endes. So wird er, von Angst und Schicksalsgläubigkeit ergriffen, schließlich zum Gespenst seiner selbst: Als er am frühen Morgen seines Selbstmordversuchs aufsteht und »aus dem Dunkel« tritt, rückt der Erzähler »sein blasses Antlitz mit den brennenden Augen« in den Blick (LL 3, 184f.). 3. Gespenster als Figurationen des Unbewussten Der ›gespenstige Rudolph‹, wie er uns hier begegnet, erscheint zugleich als ein Wiedergänger einer anderen Gespensterfigur Storms, die uns schon in 17

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Abb. 2. Thomas Burke: „The Night Mare“. Punktierstich nach Johann Heinrich Füsslis Gemälde „Der Nachtmahr“. London: John Raphael Smith 1783

Lena Wies (1873) begegnet; es ist der ›gespenstische[] Schimmelreiter‹, »der bei Sturmfluten Nachts auf den Deichen gesehen wird und, wenn ein Unglück bevorsteht, mit seiner Mähre sich in den Bruch hinabstürzt« (LL 4, 179). Wie Rudolph „aus dem Dunkel“ tritt, mit „sein[em] blasse[n] Antlitz mit den brennenden Augen“ (LL 3, 184f.), so erscheint denn auch der Schimmelreiter in Storms letzter Novelle: „eine dunkle Gestalt […] saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an“ (LL 3, 636). Die Mähre, das Pferd, mit dem der Reiter nachts im Dunkeln auf dem Deich umherjagt, das blasse Antlitz und die brennenden Augen: sie zusammen geben einen Hinweis auf ihren bildlichen Ursprung, auf ein Bild, das Storm gut kannte – auf den Nachtmahr von Johann Heinrich Füssli (1781). Storm selbst hat einen Nachstich dieses Bilds, wie er im 19. Jahrhundert populär war (etwa in der 1783 von Thomas Burke angefertigten Version; Abb. 2) in Von heut’ und ehedem (1873/74) beschrieben. 18

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Die Rede ist dort von einem »kleinere[n] Bild, dem selbst die heiteren Augen des Großmütterchens nicht gern begegneten« (LL 4, 199): Die jugendliche Frauengestalt in der düsteren Kammer schien wie unbewußt vom Schlafe auf das Ruhebett hingeworfen; der Kopf mit dem zurückfallenden Haar hängt tief herab. Auf ihrer Brust huckt der Nachtmahr mit großen, rauhen Fledermausflügeln. Sie vermag kein Glied zu rühren; vielleicht geht ein Stöhnen aus ihrem geöffneten Munde; hülflos in der Einsamkeit der Nacht ist sie ihm preisgegeben. Nur durch den Vorhang sieht der wild blickende Kopf eines Rappen, der ihn hierher hat tragen müssen, der selbst nicht von der Stelle kann. (LL 4, 199f.)

Der Fleisch gewordene Alptraum, ein sogenannter ›Nachtmahr‹, hat sich in zwei Figuren manifestiert, die als Projektion im Außenraum zeichenhaft anschaulich werden lassen, was im Inneren der Schlafenden vor sich geht. In Füsslis zweiter Fassung von 1790/91 erscheint die Mähre denn gar wie ein gespenstischer Schimmel mit stechenden, glühenden Augen. Zur Geltung kommt Füsslis Bild vom Nachtmahr erneut in Storms schon erwähnter Novelle Ein Bekenntnis. Es hängt im Wohnzimmer des mit Franz Jebe befreundeten Rechtsanwalts, und unter jenem Bild tritt Franz eines Abends die Großnichte Füsslis, Else Füßli, gegenüber. Auf Franz übt sie sogleich eine ungeheure Wirkung aus: ein geheimnisvoller Schrecken, zugleich die Empfindung eines schicksalschweren Augenblickes und eines betäubenden Glückes hatten mich getroffen; […] vor mir im hellen Lampenlichte sah ich die Augen und das blasse Antlitz meines Nachtgesichtes (LL 3, 593).

Diese Traumvision, die Franz in seiner Jugend erlebt, ist wiederum an Füsslis Nachtmahr angelehnt, doch erweisen sich hierbei Kräfte im Unbewussten von Bedeutung, die Sigmund Freud in seiner Traumdeutung später als ›Verdichtung‹ und ›Verschiebung‹ bezeichnen wird. Stellt Füsslis Bild lediglich die formale Repräsentation des Vorgangs dar, den Alptraum selbst, so werden wir bei Storm Zeugen des Trauminhalts. Die auf Füssli Bezug nehmenden Elemente ›blasses Antlitz‹, ›brennende Augen‹ und ›herabhängender Kopf‹ stellen hierbei Merkmale dar, die bei Storm auf verschiedene Elemente des Trauminhalts – und zwar auf männliche und weibliche Elemente – aufgeteilt sind: ich […] schaute durch die schwarze Fensterhöhle in den einsamen Hühnerhof hinab. […] plötzlich […] sah ich etwas; in einem Dunste, der aus dem Boden aufzuziehen schien – mir war, ich hätte es einmal an einem schwülen Mittsommerabend auf dem Kirchhof über dem Hügel eines Frischbegrabenen so gesehen – darin stand eine Gruppe von Knaben, einer an dem anderen; ihre Arme hingen herab, ihre welken Köpfe lagen schief auf ihrer Schulter, von den Augen sah ich nichts. Aber meine Blicke hafteten nicht auf ihnen; in ihrer Mitte, sie ein wenig überragend, stand die Gestalt eines etwa dreizehnjährigen Mädchens; ein schlichtes aschfarbenes Gewand zog sich bis an ihren Hals hinauf, wo es 19

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mit einer Schnur zusammengezogen war. Schön war sie eben nicht; ein etwas fahlblondes Haar lag ein wenig wirr auf ihrem kleinen Kopfe; aber aus den feinen durchsichtigen Zügen ihres Antlitzes blickten ein Paar lichtgraue Augen unter dunklen Wimpern in die meinen, unablässig, sehnsüchtig, als solle ich sie nie vergessen; […] eine verzehrende Wonne überkam mich, ich hätte unter diesen Augen sterben mögen. (LL 3, 587f.; Hervorhebungen A. B.)

Die inverse Aufteilung der Figurenmerkmale von Füsslis Nachtmahr in männliche und weibliche Anteile in Jebes Traumvision deutet hier an, dass das Nachtgesicht bei Storm ein verdoppeltes ist, das Mann und Frau, Franz und Elsi, gleichermaßen (und gleichzeitig) heimsucht. Franz erkennt daher früh, dass sein Traumgesicht nicht bloß psychischen Ursprungs ist; »es war mir«, so bilanziert er rückblickend, unmöglich, jenes Nachtgesicht nur für ein Erzeugnis des eigenen Inneren anzusehen. Aber wer war denn jenes geheimnisvolle jungfräuliche Kind? Schon bei der Erinnerung an sie fühlte ich einen süßen Schauder durch alle meine Nerven rieseln. War sie ein Genius des Todes, der mich im Traume zuvor noch einmal mitleidig angeschaut hatte? Ich versenkte mich immer tiefer, ich stellte mir lebhaft vor, daß ich in meinem letzten Augenblick sie wiedersehen, daß ich vielleicht mit jenen toten Knaben sie begleiten könnte. Aber waren diese nicht nur eine Beigabe, die meine eigene Phantasie ihr gegeben hatte, ein Rest des Eindrucks, den das Knabensterben in unserer Stadt mir hinterlassen hatte? (LL 3, 589)

So kommt Franz denn zum Schluss, das »jugendliche[] Traumgesicht« (LL 3, 593) müsse eine ‚Verdichtung’ zweier psychischer Eindrücke gewesen sein: »aus dem Eindruck des damaligen großen Sterbens und einer kaum geahnten Sehnsucht nach dem Weibe erzeugt« (ebd.). Tod und Eros sind es denn auch, die sich mit der Fleischwerdung der Vision verbinden, als Elsi ihm gegenübertritt: Ein überirdisches Liebesglück in ihrer Ehe wird bald gefolgt von ihrem qualvollen Sterben, dem Franz durch Sterbehilfe ein Ende bereitet und von dem er Elsi schicksalhaft erlöst (obwohl er, wie er tragischerweise später erfährt, sie mit einer neuen, ihm bislang nicht bekannten Operationsmethode noch hätte retten können). Auch in Ein Bekenntnis stellen dabei die Textverfahren der Spiegelung und der Wiederkehr die zentralen Rahmenbedingungen dar, mit denen das zunächst spukhaft Geschaute plötzlich zu einer unheimlichen Realität wird. So erfährt Franz eines Tages erschrocken von Elsi, dass seine Traumvision nicht bloß ein »Nachtgesicht«, sondern viel mehr war: eine spiegelbildliche Doppelvision, eine ›unheimliche‹ und übersinnliche Verbindung zweier Seelen, die, lange bevor sie sich wirklich begegnen, bereits im Traum zueinanderfinden. Denn Elsi hatte als Kind ebenfalls eine Traumvision, in der ihr umgekehrt Franz erschienen war: »[W]ir müssen«, gesteht sie eines Tages, »uns früher schon gesehen haben«, »aber ich kann mich nicht ent20

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sinnen; es war vielleicht im Traum nur; ich muß noch ein halbes Kind gewesen sein« (LL 3, 606). Damit wandelt sich Franz’ ›Nachtgesicht‹ zu einem telepathischen Vorgang, der die Realität der gesamten dargestellten Welt in Storms Novelle noch einmal radikal verändert; nicht nur wird das Vorhandensein unheimlicher Phänomene so bestätigt, vielmehr erscheint allen subjektiven Einzelwahrnehmungen und Erlebnishorizonten in Gänze eine übersinnliche Realitätssphäre übergeordnet. Wir haben es in Ein Bekenntnis folglich nicht mehr nur mit aus dem Figuren-Unbewussten stammenden, spukhaften Manifestationen zu tun, sondern mit einer neuen Realitätskonzeption, wie sie dann auch die Binnengeschichte des Schimmelreiters prägen wird:15 Realität an sich ist in Ein Bekenntnis um eine Dimension erweitert, die sich dem Individuum dauerhaft entzieht. Man kann dies leicht an Elsis Verfallsund Krankengeschichte ablesen: Zunehmend erscheint sie ihrem Mann als irreales Geisterwesen: Der Erkenntnis, er habe nun sein »Nachtgespenst« geheiratet (LL 3, 594), folgt Franz Jebes bald darauf einsetzende Wahrnehmung seiner Frau als überirdisches Wesen, als »Märchenbild« (LL 3, 595). Und so fragt er sie eines Tages: »bist du eine Undine, eine Elbe, eine Fee? Was bist du eigentlich?« (LL 3, 595) Eine Antwort auf diese Frage gibt die Novelle wenig später, denn es häufen sich die Situationen, in denen Elsis Erscheinung in Bildbeschreibungen von Füsslis Nachtmahr überführt wird – sie somit in jenes unwirkliche Kunstreich des Unheimlichen zurückverbannt wird, aus dem sie doch qua Abstammung hervorgegangen ist. So erscheint sie ihrem Mann als übersinnliche »Elfe«, als nordischer Naturgeist – dabei die Attribute aus Franz’ Traumvision wiedergängerisch verdoppelnd – in einem »schlichte[n] Kleid, lichtgrau, von einem weichen durchsichtigen Stoffe«, das »bis zum Hals hinauf« geht (LL 3, 602). Und eines Abends, als Franz während »herabsinkende[r] Abenddämmerung« nach Hause kommt (LL 3, 604), bietet sich ihm »ein befremdender Anblick« (LL 3, 605): Als ich eintrat, sah ich Else mitten im Zimmer stehen; aber […] sie stand ohne Regung, wie ein Bild, die linke Hand herabhängend, die rechte, wie beklommen, gegen die Brust gedrückt. Gleich einer Verklärung lag der rote Abendschein, der durch die Scheiben brach, auf den herabfließenden Falten ihres lichtgrauen Gewandes, auf dem feinen Profil ihres Angesichts, das sich klar von dem dunklen Hintergrund des Zimmers abhob. (LL 3, 605; Hervorhebungen A. B.) 15 Wenngleich sich diese Konzeption dort nicht auf die Ebene der Rahmenhandlung ausdehnt, wie zuletzt Karl Ernst Laage gezeigt hat, vgl. seinen Beitrag „Zur Rolle des Deichgespenstes in Storms ‚Schimmelreiter’“, in: STSG 63 (2014), S. 40-46. 21

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Mehr und mehr wird Elsi, je näher Franz ihr kommt, zur Spukgestalt, immer unwirklicher erscheint sie ihm, wie ein Geistwesen schließlich: »Deine Augen«, so bekennt er seiner Frau schließlich, »sind so gespenstisch, Elsi!« (LL 3, 606). Und von Franz angesprochen, reagiert sie nur mehr »wie traumredend« (LL 3, 605). Franz bemerkt, wie »nur ihre lichtgrauen Augen […] unablässig und immer forschender in die meinen [sahen]« (ebd.), so dass ihm »unheimlich unter diesem Blicke wurde; zugleich aber kam jener süße Schauder über mich, der mir damals von meinem Nachtgesicht geblieben war« (ebd.). Wie Elsi gekommen war, so verschwindet sie folglich: als »Nachtgesicht«, als überirdische, übersinnliche Erscheinung, als »Luftgestalt« (LL 3, 591). Was also verkörpert Elsis spukhaftes Erscheinen und Verschwinden in Storms Novelle? Im Text wird die psychische Disposition, deren Verkörperung sie im Wortsinne ist, von Franz explizit benannt: es ist die »angstvolle[] Sehnsucht« (LL 3, 588), mit der er an Elsi gebunden ist, eine psychische Struktur, die Lust und Sehnsucht mit Verlust- und Todesangst paart, wobei beides einander zugleich bedingt. Vergleichbar ist Anna in Storms Schweigen an ihren Rudolph gebunden – in einer, wie es dort heißt, »Todesangst der Liebe« (Schweigen; LL 3, 189). Malte Stein hat auf diese »starke Ambivalenz zwischen Beziehungssehnsucht und Beziehungsangst«, die Storms Figuren zueigen ist, hingewiesen.16 Wie Elsi Franz gegeben wird – als Traumgesicht –, so wird sie ihm schließlich wieder genommen; als Erzähler kann Franz nur seine eigene Ohnmächtigkeit angesichts einer übermächtigen jenseitigen Sphäre konstatieren. 4. Was wissen wir denn auch von diesen Dingen! Okkulte Phänomene als Figurationen ambivalenter Realität Storms Ein Bekenntnis führt am Beispiel von Elsis geisterhafter Erscheinung und der übersinnlichen Doppelvision, die beide Liebende voneinander in Jugendjahren hatten, somit eine neue Wirklichkeitsauffassung ein, in der es nicht primär – wie etwa in Schweigen – um die Bewusstwerdung von nicht-bewussten Problempotentialen in der Person geht. Das Nicht-Bewusste, das sich hier im »Nachtgesicht« als einer telepathischen Doppelvision zeigt, wird vielmehr auf Elsis überirdisch anmutendes Wesen bezogen, das sich jeder normalen Realität entzieht. Wenn nun aber Storms Text somit das Nicht-Bewusste als nicht-realitätskompatibel positioniert, das rationaler Wirklichkeitsauffassung also per se unzugänglich ist, welche Funk16 Vgl. Malte Stein: „Sein Geliebtestes zu töten“. Literaturpsychologische Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms, Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 12. 22

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tion kommt dann dem Unheimlich-Übersinnlichen in Storms Novelle hier zu? Betrachten wir noch einmal, was eigentlich in Ein Bekenntnis geschieht: Als Knabe hat Franz Jebe ein »Nachtgesicht«, eine »Traumvision«, in der ihm eine schöne, verlockende Kindfrau, unheimlich umgeben von einer Friedhofsatmosphäre, erscheint. Jahre später begegnet ihm sein »Nachtgesicht« in der Realität, die Vision erweist sich somit rückblickend als ›Zweites Gesicht‹ oder ›Seherschaft‹, mit der Franz Künftiges erblickt hat. In dem Moment, als wir von Elsis paralleler Traumvision erfahren und sich Franz’ »Nachtgesicht« zur Doppelvision wandelt, erweist sich der Traum als übersinnliche Gedankenübertragung oder telepathische Fernwirkung, was von Franz zudem mit elektrisch wirkenden Kräften erklärt wird und bei ihm Nervenrieseln verursacht. So kommt denn auch die anschließende Begegnung mit Elsi, wie er sich erinnert, »einem elektrischen Schlage gleich« (LL 3, 594). Damit aber nicht genug: Denn sein »Nachtgesicht« hatte er damals nicht einfach geträumt, sondern regelrecht erlebt: Von jener Fensterhöhle [in einem abgelegenen, dunklen Raum des elterlichen Hauses] aus […] habe ich ein Gesicht gehabt, das, wie ich mir noch heute nicht verreden kann, mein ganzes späteres Leben bestimmt hat; nur ein Nachtgesicht, das mir mit geschlossenen Augen offenbar ward; denn mein Leib lag in meiner Kammer oben im Wohnhause und von Schlaf bezwungen. Aber gleichviel; ich sah, ich erlebte es. (LL 3, 587)

Nur ein Traum, könnte man mutmaßen, war hier dem rückblickend erzählenden Franz widerfahren, während er schlief, doch setzt er darauf nochmals an und erzählt ein zweites Mal von seinem Erlebnis: ich hatte mich lange schlaflos in meinem Bett umhergeworfen; denn vor meinem Fenster [des Schlafgemachs im oberen Hausteil, A. B.] […] schüttelte der Sturm die schon halb entlaubten Baumkronen […]. Endlich wurde es schwächer; ich hörte schon nichts mehr; ich stand unten in jenem Torfraum auf den aufeinander gepackten Kisten und schaute durch die schwarze Fensterhöhle in den einsamen Hühnerhof hinab. (LL 3, 587)

Unmissverständlich wird hier das paradoxe Nebeneinander des zugleich schlafenden und erlebenden Ich behauptet: Franz befindet sich gleichzeitig oben in seinem Bett und unten im Stall, auf den Hühnerhof blickend. Storm siedelt Franz’ Erlebnis somit zwischen somnambulem Schlafwandel und der doppelgängerischen Fähigkeit zur Bilokalisation an, zum gleichzeitigen Auftreten einer Figur an zwei unterschiedlichen Orten. Fassen wir zusammen, welche Störungen, Brüche und Modifikationen der – schon kaum noch als alltagskompatibel zu bezeichnenden – Realität in Ein Bekenntnis vorkommen, so haben wir also: ›Zweites Gesicht‹, ›Seherschaft‹, Geistersehen, Traum, Gedankenübertragung resp. Telepathie, Fernwirkung mit elektrischen Kräften, Somnambulismus und Doppelgänger23

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tum. Die übersinnliche Realität, wie sie Storm seiner Novelle als irrationale Ebene ›über‹, ›hinter‹ oder ›unter‹ der ›normalen‹ Alltagsrealität zuordnet, stellt sich damit als reichlich überdeterminiert dar, sodass sich die Frage nach ihrer Funktion (und Herkunft) aufdrängt. Storm verdichtet hier in Ein Bekenntnis, Elemente einer zur Entstehungszeit seiner Novelle (zwischen Herbst 1885 und Mai 1887) höchst aktuelle, in der interessierten deutschen Öffentlichkeit geführte Debatte um okkulte Phänomene. Denn genau in die Zeit seiner Arbeit an der Novelle fiel der Beginn der engeren wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Okkultismus in Deutschland, wurde 1886 doch nicht nur die Münchner Psychologische Gesellschaft gegründet, sondern auch die Zeitschrift Sphinx, herausgegeben von Wilhelm Hübbe-Schleiden. In ihr erschienen zahlreiche Berichte über okkulte Phänomene (Telepathie, Magnetismus, übersinnliche Gedankenübertragung, Gespenstererscheinungen u. a.), und unter ihren Autoren waren so bekannte Beiträger wie Eduard von Hartmann, Kurt Eisner, Max Dessoir, Carl du Prel und Leo Tolstoi. Dass okkultistische Phänomene in den 1880er Jahren weit in den öffentlich diskutierten Bereich ragten, belegen zudem auch zahlreiche Berichte (z. T. von denselben Autoren), die etwa in der verbreiteten Zeitschrift Die Gegenwart erschienen.17 Storms Text, so zeigt ein Blick auf diese beginnende Okkultismus-Debatte der 1880er Jahre, weiß allerhand von okkulten Phänomenen – und dies auf der Höhe der Zeit. Storm weist damit einmal mehr in seinem Spätwerk einen direkten Pfad in die Frühe Moderne, in der die Diskussion um das Okkulte ihren Höhepunkt erreicht und auch das literarische Genre der Phantastik erst richtig stimuliert. Doch verwendet Storm diese Phänomene in Ein Bekenntnis in erster Linie als Metaphern, indem er die vielfache Referenz auf okkulte Phänomene verdichtet und bündelt, um von den Einzelerscheinungen abstrahierend eine neue Realitätskonzeption zu entwerfen und die gesamte wahrgenommene Welt als eine sich dem Subjekt immer wieder entziehende Dimension zwischen ›Natur‹ und ›Übernatur‹ zu skizzieren – eine Welt, die dem Einzelnen (wie Franz) real vorkommt und die doch zugleich als übersinnlich, uneigentlich und nicht-realistisch motiviert erscheint. Doch nicht als Kapitulation des rationalen Geistes vor dem Irrational-Unbekannten positioniert Storms Novelle dieses Übersinnliche, sondern verbunden mit der Erkenntnis, dass es jenseits der normalen Realität eine nicht-verstehbare Realitätsdimension geben könnte, welche die Gesetze der Zeit (etwa zwischen jugendlicher Traumvision und späterer Begegnung in der Wirklichkeit) und des Raums (etwa zwischen entfernt 17 Vgl. dazu auch Sabine Doering-Manteuffel: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web, Berlin: Siedler 2008. 24

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lebenden Liebenden, wie Elsi und Franz dies einst waren) überwinden könnte. Man kann dies als säkularisierte Sehnsucht nach Transzendenz lesen – eines Autors, der doch der Religion und dem Glauben im tradierten Sinne wenig abgewinnen konnte. Vor allem aber schafft Storm damit eines: eine literarische Bedeutungsdimension, die in realistischen Erzählwelten auf ambivalente Weise mit der Möglichkeit phantastisch-mehrdeutiger Realitäten spielt, ohne diese eindeutig als existent oder inexistent auszuweisen. Wie im Fall der Projektion innerpsychischer Probleme auf Spuk- und Gespensterfiguren ermöglicht das ›Geistwesen‹ Elsi, Franz’ »Traumgesicht« (LL 3, 593), auch hier die Figuration von zugleich sichtbarer Realität und übernatürlich-unsichtbarer Dimension. Die okkulten Phänomene des Unheimlichen, Spuk- und Geisterhaften, wie sie sich mit Elsis Erscheinen in Ein Bekenntnis verbinden, halten dabei die gesamte dargestellte Wirklichkeit von Storms Geisterwelt in ambivalenter Schwebe. 5. Erzählen als Medium der (Selbst-)Therapie Angesichts dieser die Figuren immer wieder beunruhigenden Irritation und des drohenden Realitätsverlusts entwickeln die Stormschen Erzählungen nun Strategien, die Gewissheit über die Realität wiederzugewinnen. Titelgebend wird diese Strategie in Ein Bekenntnis: der Erzählakt wird zum befreienden Akt der Mitteilung des bislang in der Person verschlossenen Unerzählten und Verschwiegenen. Nachdem Franz Jebe sein Bekenntnis abgeschlossen hat, kann er sein altes Leben hinter sich lassen. Von seinem Freund, dem Rahmen-Ich-Erzähler in Ein Bekenntnis, verabschiedet er sich mit den Worten: »Daß du zur rechten Zeit mich fandest, daß ich zu dir das Ungeheure von der Seele sprechen konnte, hat meinen Geist befreit: ich bin jetzt fest entschlossen; ich gehe fort, weit fort, für immer« (LL 3, 631). Wiederum titelgebend wird im Gegensatz dazu das psychische Problem Rudolphs, das aus seinem Schweigen in der Novelle Schweigen resultiert; erst das Verfassen des Abschiedsbriefs an seine Frau, die Mitteilung über seinen vermeintlichen Krankheitszustand, führt zur Erkenntnis, dass mit dem Durchbrechen des Schweigens die ‚Heilung’ ja bereits eingetreten sei. plötzlich stand ihm Eines, nur dies Eine vor der Seele: das Schweigen, das furchtbare Schweigen war ja nun zu Ende! […] er wußte es plötzlich, er fühlte es hell durch alle Glieder rinnen: der Arzt hatte recht gehabt; er war gesund, er war es längst gewesen […] Die Waldesenge um ihn wich zurück, und jene Sonnenlandschaft, unter deren Bilde ihm das ersehnte Glück so oft erschienen war, breitete sich licht und weit zu seinen Füßen; der Weg war offen, der zu ihr hinabführte (LL 3, 190f.).

In Ein Doppelgänger wird das poetologische Modell des Erzählens als ‚Vonder-Seele-Sprechen’ gleich doppelt relevant: Der Ich-Erzähler erfährt dort, dass Christine, die Frau des Oberförsters Franz Adolf, in ihrer Kindheitser25

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innerung eine Spaltung in ein Vor und Nach dem Tod der Mutter besitzt; ihrem liebevollen Vaterbild entgegengesetzt kann sie sich nur an ein »Schreckbild« vor dem Tod der Mutter erinnern, dass sie mit ihrem Vater nicht zusammenzubringen vermag: […] mir ist oftmals, als hätt ich vorher, bei Lebzeiten meiner Mutter, einen anderen Vater gehabt – den ich fürchtete, vor dem ich mich verkroch, der mich anschrie und mich und meine Mutter schlug ..... und das ist doch unmöglich! Ich habe selbst das Kirchenbuch aufschlagen lassen; meine Mutter hat nur diesen einen Mann gehabt. Wir haben zusammen Not gelitten, gefroren und gehungert; aber an Liebe war niemals Mangel. (LL 3, 526) Aus der Zeit aber, wo ich mit meiner Mutter lebte […] vermag ich keine feste Erinnerung an meinen Vater zu gewinnen; ich muss mich mit dem wüsten Schreckbild begnügen, das mein Verstand vergebens zu fassen sucht. (LL 3, 527)

Ausgelöst durch diese Kenntnis von der Spaltung des Vaterbilds, erschließt sich dem Erzähler darauf nachts, in »halbvisionärem Zustande« (LL 3, 574), die ganze, in Christine verdrängte Geschichte, das Bild des in zwei Identitäten gespaltenen John Hansen alias John Glückstadt: Am offenen Fenster stehend, erscheint vor seinem »innere[n] Auge« dessen ganze Lebensgeschichte, während er zugleich draußen »auf den Teich und auf die Wasserlilien, die wie Mondflimmer auf seinem dunklen Spiegel lagen«, sieht (LL 3, 531). In einem verschobenen Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit (durch die anschließende Mitteilung der vom Erzähler imaginierten Lebensgeschichte John Hansens) wird Christine in der Folge von ihrer spukhaften Inkongruenz der beiden Erinnerungsbilder an ihren Vater befreit, und so vermag sie erst dann, Bild und »Schreckbild« als Doppelgängerwesen des Vaters zu einem »ganzen Menschen« (LL 3, 579) zusammenzusetzen. Erzählen zeitigt auch hier die therapeutische Wirkung eines Bewusstwerdungsaktes, bei dem das ins Unterbewusste Verdrängte ins aktive Bewusstsein integriert werden kann. Fazit Die Subjekte in Storms späten Novellen erfahren sich stets als Subjekte in der Krise, die mit Wahrnehmungsproblemen konfrontiert sind: ihnen entzieht sich immer wieder die Realität der Gegenwart ebenso wie die der Erinnerung. Das Spiegelbild – des eigenen, kranken Selbst in Schweigen, das Spiegelbild im Anderen in Ein Bekenntnis oder das des doppelten John Hansen/John Glückstadt in Ein Doppelgänger – wird so zum Inbegriff einer Lebenserfahrung, die durch Entzug von Anwesenheit, Präsenz, Selbstgefühl gekennzeichnet (und nicht selten als traumatisch ausgewiesen) ist. Im Doppelgänger (figural), im Spiegel (räumlich-zeichenhaft) oder im Geistersehen (imaginär) lässt sich diese Erfahrung als Aufspaltung, als figurale 26

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Dissoziierung in Körper und Seele, in Bewusstes und Unbewusstes literarisch abbilden und gestalten. Doppelgänger wie Geistererscheinungen werden in Storms späten Novellen daher als Zeichen unbewältigter psychischer Probleme funktionalisiert, die das innerpsychische Geschehen spiegelnd auf den Raum projizieren und in Gestalt verschiedener Figuren und Figurationen wortwörtlich ›auftreten‹ lassen. Erst als therapeutisch begriffene Erzähl- und Bekenntnisakte vermögen das Verdrängte aus der ›Tiefe‹ der Person wieder an die Oberfläche zu holen, es in diesem Sinne überhaupt erst trennscharf wahrzunehmen und dann ins Bewusstsein zu integrieren.18 Dass Storm dabei überdeutlich Modellen vorgreift, wie sie Freuds Psychoanalyse später entwickelt, ist bereits vielfach betont worden;19 dabei steht Storm selbst in einer aus der Romantik stammenden Linie solch vertikaler (Raum-)Modelle der Psyche, wie sie etwa in Friedrich de la Motte Fouqués Undine mit der Unterscheidung von Nicht-Bewusstem (›Unten‹) vs. Bewusstem (›Oben‹) entworfen werden (ein Text im Übrigen, der von Storm selbst in Ein Bekenntnis zitiert wird). 20 Dass Storm für die Gestaltung des Unbewussten, für das dem Bewusstsein auf unheimliche Weise Entzogenen im menschlichen Seelenhaushalt aber ausgerechnet den Bereich des Spukhaften wählt, erklärt sich zuletzt, vor allem aus dem visuellen Reiz bildhafter Gestaltungsmöglichkeit für das eigentlich Unsagbare – das dann als Kobold, als Dämon, als Spuk- und Geisterwesen externalisiert und dargestellt werden kann. Zum Urbild dafür wird in Storms Werk Füsslis Nachtmahr, der wiedergängerisch durch seine Texte spukt.

18 In Schweigen ist das dabei unterlegte vertikale Modell der aus dem Unbewussten aufsteigenden Bedrohung unübersehbar, wenn es heißt: „Es war in Rudolph etwas wach gerufen, das während seiner kurzen Ehezeit bisher geschlafen hatte; ein Zufall hatte die Decke jetzt gelüpft, und er sah es in der Tiefe liegen und allmählich höher steigen, bis es endlich unverrückt mit den feindlichen Augen zu ihm emporstarrte.“ (LL 3, 156) Und auch seine Frau „mußte sich […] denn wohl gestehen, was ihres Mannes Stirn umwölkte, war etwas Anderes, als was der wechselnde Tag zusammentreibt […]. Aber aus welchen ihr unbekannten Abgründen war das aufgestiegen?“ (LL 3, 165) 19 Verwiesen sei hier exemplarisch auf Irmgard Roebling: Prinzip Heimat, eine regressive Utopie? Zur Interpretation von Theodor Storms „Regentrude“, in: STSG 34 (1985), S. 55-66; sowie auf Marianne Wünsch: Experimente Storms an den Grenzen des Realismus: Neue Realitäten in ‚Schweigen‘ und ‚Ein Bekenntnis‘, in: STSG 41 (1992), S. 13-23. Vgl. dazu auch Regina Fasolds Schimmelreiter-Deutung (R. F.: Theodor Storm, Stuttgart/ Weimar: Metzler 1997, S. 152ff.) sowie grundlegend Malte Steins Monographie „Sein Geliebtestes zu töten“ (wie Anm. 16). 20 Vgl. LL 3, 594. 27

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Ole Peters oder die Schuldfragen im Schimmelreiter David A. Jackson, Cardiff Trotz der unzähligen Studien über den Schimmelreiter1 sind die Rolle von Ole Peters in der Handlung und sein Platz innerhalb des Bedeutungsgefüges der Novelle nie gründlich analysiert worden. 2 Schon die ältere Stormforschung neigte, bei allem Lob für Hauke Haiens Leistungen und aller Kritik an dem Aberglauben, der Trägheit und der Beschränktheit der Mitglieder der dargestellten Küstengemeinde3 dazu, seine konfliktreiche Beziehung zu ihnen seinen eigenen Charaktereigenschaften zuzuschreiben. Letzten Endes habe er selbst sein tragisches Ende verschuldet. Mit ihrer scharfen Kritik an dem Erbe der Aufklärung kam die neuere feministisch4 und psychoanalytisch orientierte Stormforschung, die in den 1990er Jahren aufgekommen ist, Frauengestalten wie Trien’ Jans und der in der Novelle nur erwähnten Antje Vollmers zugute; Ole Peters als Mann profitierte aber nicht davon. Im Geist dieses Trends widmete Malte Stein 5 ihm einige herausfordernde Seiten. Steins sehr kritische Deutung Haukes, die in ihrem   1 Es wird zitiert nach der Ausgabe Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hrsg. v. Karl Ernst Laage u. Dieter Lohmeier, Frankfurt am Main 1987/88.   2 In Studien über den Schimmelreiter ebenso wie in allgemeinen Inhaltsangaben ist man sehr eklektisch und sehr unsystematisch mit Ole Peters umgegangen. Meistens wird seine Eifersucht auf den Kleinknecht Hauke notiert. Was sein schäbiges Handeln beim Eisboßeln und seine Versuche, den Deichgrafen zu diskreditieren, betrifft, herrscht größere Willkür. Einer erwähnt dies, ein Anderer das. In der Regel wird Oles Opposition gegen alle gründlichen Reparaturen am alten Deich kritisiert, aber dann rehabilitiert er sich etwas durch seinen Befehl, den neuen Deich zu durchstechen, denn angeblich hätte diese Maßnahme alles noch retten können. Diese beliebigen Bemerkungen runden sich zu keinem kohärenten Gesamtbild. .   3 Siehe z. B. das Urteil von K. E. Laage (LL 3, S. 1089).   4 Der Aufsatz von Irmgard Roebling: Von Menschentragik und wildem Naturgeheimnis. Die Thematisierung von Natur und Weiblichkeit in » Der Schimmelreiter «, in: Storm Lektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag, hg. von Gerd Eversberg, David Jackson und Eckart Pastor, Würzburg 2000, S. 183–214, hat hier einen massiven Einfluss ausgeübt.   5 Malte Stein: » Sein Geliebtestes zu töten «. Literaturpsychologische Studien zum Geschlechts- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms, Berlin 2006, S. 177–183.   6 Christian Neumann: Zwischen Paradies und ödem Ort. Unbewusste Bedeutungsstrukturen in Theodor Storms novellistischem Spätwerk Würzburg 2002. 28

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Grundtenor der von Christian Neumann 6 gleicht, förderte zwei Tendenzen. Erstens: da Haukes Charakter und Lebenslauf durch die traumatischen Erlebnisse seiner frühen Jahre bestimmt seien und er dadurch zum Scheitern quasi prädestiniert sei, wäre es absurd, einem Fremden, mit dem er erst als junger Mann in Kontakt kommt, eine Hauptrolle bei der Gestaltung seines Lebens zuschreiben zu wollen. Zweitens: wenn der Hauke-Haien-Deich tatsächlich ein unnützes, verderbliches Projekt ist,7 so ist Oles Infragestellung von Haukes Motivation und Kompetenz logischerweise als voll berechtigt zu betrachten. Hauke wird ab- und Ole aufgewertet. Im Gegensatz zur neueren Forschung möchte ich die These verfechten, dass Ole aus persönlichen Gründen, die nichts mit Haukes angeblichen Mängeln zu tun haben, eine erbitterte, oft gemeine Kampagne gegen ihn führt. Ferner werde ich zu zeigen versuchen, dass er nicht als ein Nebenakteur unter etlichen anderen, sondern vielmehr als Haukes Hauptkontrahent zu betrachten ist. Sein Ziel, so scheint es mir, ist es, eine Kluft zwischen Hauke und der Gemeinde zu schaffen und dann systematisch zu vergrößern, um ihn und seine Werke zu diskreditieren und letzten Endes zu vernichten. Wenn Hauke im Lauf der Novelle unzweifelhaft gewisse unattraktive Charakterzüge annimmt, dann, so scheint es mir, geschieht dies als Reaktion auf Oles Äußerungen und Taten. Zwei Biographien, nicht bloß eine, entfalten sich in der Novelle, und es lässt sich eine höchst dramatische Entwicklung verfolgen, die auf dem altbewährten Kunstrezept von Held und Bösewicht ebenso wie auf tradtionellen psychologischen und psychosozialen Kategorien basiert. Vom Leser wird gefordert, dass er die Bedeutung der vielen oft »gemeinen« Details erfasst, mit denen der fiktive Erzähler eine Reihe streng komponierter Szenen, Wortwechsel und Sitzungsberichte konstruiert, die als »realistisch« − im Gegensatz zu »naturalistisch« oder »poetisch-realistisch« − im Sinne einer Milderung und Beschönigung der Wirklichkeit zu kennzeichnen sind. Verbale Auseinandersetzungen stehen im Kern der Novelle, und indem ich Oles Hauptwaffe in seinem Kampf gegen Hauke, nämlich sein demagogisches Talent, untersuche, werden hoffentlich zwei diametral entgegengesetzte Rede- und Sichtweisen klar hervortreten: eine, die sich an die Vernunft und den Verstand richtet, und eine andere, die dahin zielt, Angstgefühle, Ressentiments und Hass zu schüren. Schließlich wird hoffentlich aus meinen Darlegungen hervorgehen, dass die Entstehung der ganzen Geschichte von Hauke als Teufelsverbündetem in hohem Maß auf Ole und seinen Haushalt zurückgeführt werden muss.   7 Stein 2006 (wie Anm. 5), S. 177–183. 29

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Der Großknecht Ole Peters wird vom fiktiven Erzähler als ein tüchtiger Arbeiter und maulfertiger Geselle eingeführt (LL 3, 656).8 Letzeres ist m. E. der Schlüssel zu seiner Funktion in der Novelle. Gleichzeitig soll der Leser auch später fragen, inwiefern Tüchtigkeit in alltäglichen, landwirtschaftlichen Dingen Ole dazu befähigt, ambitiösere Aufgaben zu übernehmen. Haukes Vorgänger in den Diensten desDeichgrafen, ein dummer, träger, stämmiger, oft betrunkener Kleinknecht, wird von Ole herumkommandiert und nach Herzenslust herumgestoßen (LL 3, 656). Als sympathischer, rücksichtsvoller Mensch und Mentor wird er also von allem Anfang an nicht präsentiert. Zu seinem Verdruss muss er feststellen, dass dem ihn geistig überragenden neuen Kleinknecht auf diese Weise nicht beizukommen ist. Trotzdem ist es nur Elke Volkerts zu verdanken, dass er Haukes jugendlichem Körper durch schwere Lasten nicht schadet. Dokumentiert wird, wie der Zwiespalt zwischen Groß- und Kleinknecht wächst, als dieser vom Deichgrafen zu Rechnungsarbeiten herangezogen wird, während Ole, dem eine solche Tätigkeit nie anvertraut werden könnte, die Aufgaben verrichten muss, die der Kleinknecht normalerweise erledigt. Als Elke ihm diese Anordnung mitteilt, reagiert er wütend und gewalttätig, indem er mit einer Trense gegen den Ständer schlägt, als wolle er sie kurz und klein hauen. Ihm wäre es wohl lieber, wenn er Hauke selbst verhauen dürfte. Sein Fluch dabei – »Hol der Teufel den verfluchten Schreiberknecht!« (LL 3, S. 657) –   8 Natürlich gilt es immer zu fragen, ob der Text Daten liefert, die die Urteile und Behauptungen des Schulmeisters in Frage stellen und ob die Novelle als Ganzes dem Leser andere davon abweichende Schlussfolgerungen nahelegt. Mir scheint die anti-aufklärerische, gegen den Schulmeister gerichtete neuere Stormforschung allzu bereit, seine Denkkategorien von vornherein für einseitig und falsch zu halten. Ich habe oft das Gefühl, sie eigne sich die »alternative« Fassung der Hauke-Haien-Geschichte begeistert an, die die graue Erzähleminenz Antje Vollmers − wie ein deus absconditus im Hintergrund lauernd − den Dorfbewohnern auftischt. Eine Kostprobe genießt der Leser nicht. Noch etwas: Inzwischen sind wir Stormforscher trotz unserer sonstigen Meinungsverschiedenheiten uns einig, dass man bei Texten Storms zwischen den Zeilen lesen muss. Nur bedeutet das meiner Ansicht nach nicht, dass man immer zwischen einer manifesten Oberfläche und einer tieferen latenten Bedeutungsebene − meistens einer psychoanalytisch definierten – unterscheiden muss. Unter den inzwischen vielen Stormforschern und -forscherinnen, die diese Sicht vertreten, ist neben Fasold, Neumann und Stein ist auch Marianne Wünsch zu nennen. Vgl. z. B.: M. W.: Vom späten » Realismus « zur frühen Moderne. Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels. In : Modelle des literarischen Strukturwandels, hrsg. v. Michael Titzmann. Tübingen 1991, S. 187–293 ; M. W. : Experimente Storms an den Grenzen des Realismus. Neue Realitäten in » Schweigen « und » Ein Bekenntnis «. In : STSG 41(1992), S. 13-23 . Wenn ich auf der psychologischen und psychosozialen » Oberfläche « bleibe, dann weil ich davon überzeugt bin, dass die von Storm abgebildete Wirklichkeit nicht einfach als Camouflage abzutun sei. 30

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bezeugt zum einen sein Talent für abschätzige Neuformulierungen und spiegelt zum zweiten seine bitteren Gefühle treu wieder. Dass die ganze Teufelsgeschichte später eine große psychologische Attraktivität auf ihn ausübt, dürfte klar sein. Aber zu diesem Zeitpunkt denkt weder er noch irgendjemand sonst ernsthaft daran, aus Hauke einen wahrhaften Teufelsbündner machen zu können. Trien’ Jans mag ihn verfluchen (LL 3, S. 647), als er ihren Kater erwürgt, und trotz des Schweigegeldes seines Vaters wird sie seine Gewalttat in der Gemeinde herumkolportieren. Aber wer gibt Acht auf das Jammern einer alten Frau?! Erst später werden sich Haukes Tat und ihr Fluch in das sonstige Teufelsmaterial integrieren lassen. Dem Leser darf es nicht entgehen, dass nicht jeder Oles Haltung teilt. Zwar halten Haukes ehemalige Mitschüler − von Schulkameradschaft ist nicht die Rede − den vom Schulmeister gelobten Rechner für einen Träumer, und es liegt ihnen nichts am Verkehr mit ihm (LL 3, S. 643). Dasselbe gilt für die Deicharbeiter. Bei der Arbeit packt er kräftig mit an, kehrt aber nach Feierabend nicht wie die Anderen nach Hause zurück, sondern geht seinen einsamen Beobachtungen auf dem Deich nach. In beiden Fällen deutet im Text nichts darauf hin, dass man ihn deswegen als einen Sonderling oder ein nicht integriertes »asoziales« Wesen feindlich betrachtet. Der von den anderen Männern gepflegte gesellige Verkehr ist kaum anregend oder menschlich bereichernd. Sie sitzen im Wirtshaus herum, Branntwein trinkend und Karten spielend. Ole − das erfährt der Leser bald − ist ein Stammgast dort, und das Wirtshaus wird zu seiner geschätzten Rednerbühne werden. Ole hat einen weiteren Grund, Hauke feindlich gesinnt zu sein. Dem Leser leuchtet früh ein, dass dieser körperlich unattraktive Sohn eines Tagelöhners (LL 3, S. 664) mit seinem breiten Gesicht und seiner knarrenden Stimme sehr ehrgeizig ist und sozial aufsteigen will. Vielleicht hat er sich zu diesem Zweck gerade beim Deichgrafen als Kleinknecht verdungen und sich zum Großknecht emporgearbeitet, denn es ist offensichtlich sein langfristiges Ziel, dessen Tochter zu heiraten, den Hof zu übernehmen und eines Tages selbst Deichgraf zu werden. Die spürbare Neigung zwischen Hauke und Elke droht einen Strich durch seine Rechnung zu machen, während die völlig abweisende Behandlung, die er durch die junge Frau erleidet, bei ihm Eifersucht, Frustration und Wut hervorruft. Es wird zu seinem Hauptanliegen, Mittel und Wege zu ersinnen, die ihm erlauben, an diesen jungen Emporkömmling, den Schützling des Deichgrafen und seiner Tochter, heranzukommen. Dazu sind die Aussichten jedoch momentan schlecht, und im Wirtshaus misst niemand dem Lästern und Schimpfen eines Großknechts viel Bedeutung bei. Will er die Gemeinde gegen seinen Rivalen aufbringen, so bedarf es einer Angelegenheit, die in breiteren Kreisen Ressentiments erregt und die er zu seinen eigenen Zwecken lenken und aus31

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beuten kann. Eine solche lässt nicht lange auf sich warten. Als diejenigen Dorfbewohner, die, wie es heißt, im bisherigen Schlendrian fortgesündigt haben und denen jetzt unerwartet auf die faulen Finger geklopft wird, sich unwillig und verwundert umsehen, woher die Schläge denn wohl gekommen sind (LL 3, S. 661), ergreift er mit beiden Händen die Gelegenheit, sie darüber aufzuklären und durch seine »Offenbarungen« 9 einen Widerwillen gegen Hauke und dessen Vater zu erregen. Man darf Zweifel an der Sachlichkeit und Fairness seiner »Offenbarungen« hegen. Der Text betont, dass andere Nichtbetroffene oder Leute, denen es um die Sache selbst zu tun ist, diesen Unwillen nicht teilen. Im Gegenteil, sie lachen förmlich und haben ihre Freude daran, dass Hauke den faulen, nachlässigen Deichgrafen auf Trab gebracht hat (LL 3, S. 661). Die Gemeinde ist gespalten, aber die Lacher sind im Moment auf Haukes und nicht auf Oles Seite. Diejenigen, die Haukes Tätigkeit sehr hoch einschätzen, sind schon davon überzeugt, dass er einen hervorragenden Deichgrafen abgäbe, besäße er Land genug. Die Rede von Hauke als potenziellem Deichgrafen muss für Ole ein Gräuel sein, und eins wird er sich hinter die Ohren geschrieben haben: Bei jeder Diskussion über Haukes Qualifikationen für ein Amt muss sein Mangel an Land und Boden betont werden. Die Handlung verdichtet sich. Der Leser erwartet fortan von Ole böse Machenschaften. Haukes Ansehen in der Gemeinde und damit seine Attraktivität als potenzieller Deichgraf dürfen nicht zunehmen. Seine Teilnahme als Werfer am Wettstreit zwischen Marsch- und Geestbewohnern muss, es koste, was es wolle, hintertrieben werden, denn tritt der wurfgeübte, inzwischen feste Kleinknecht als Werfer auf, so besteht eine reale Gefahr, dass er durch eine ausgezeichnete Leistung zum gefeierten. Helden und Liebling der Gemeinde wird. Schritt für Schritt wird beschrieben, wie Ole mit höchster Konsequenz vorgeht. Der Erzähler erspart dem Leser nichts, und will man dem Erzählcharakter dieses Werkes gerecht werden, so darf man diese Details nicht als trivial oder als Füllsel überspringen. Bei der Diskussion über Haukes Aufnahme als Werfer fängt Ole seine Störaktionen an, indem er sie verbissen zu blockieren sucht. Neue Aufnahmequalifikationen wohl erfindend, will er „Kleinknechte und Jungens“ (LL 3, 664) ausgeschlossen wissen. Diese gemeine Taktik nützt ihm nichts, und Alle schreien gegen seinen schamlosen Versuch, Hauke sogar als Jungen einzustufen. Er gibt aber nicht auf. Als gesagt wird, Haukes Vater besitze Vieh und Land, kontert er schnell mit seinem demagogischen Talent für karikaturhafte, krass über  9 Man soll auf das Wort achten. Eine »Offenbarung « ist die Enthüllung göttlicher »Wahrheiten «. Sie steht im Gegensatz zu Erkenntnissen, die der Vernunft und dem Verstand des Menschen entstammen. 32

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triebene Bilder mit der Behauptung, man könne dieses Land auf dreizehn Karren wegfahren (LL 3, S. 665). Solche Sprüche und Bilder mögen mit der Wahrheit wenig zu tun haben, aber sie sind gut geeignet, sich bei gewissen Zuhörern leicht einzuprägen. Die angestrebte Wirkung bleibt diesmal wiederum aus: Es wird nicht gelacht. Es gelingt Ole nicht, Hauke Haien oder seinen Vater zu Figuren, zu machen, über die man sich lustig macht. Den Ruf von Haukes Vater – er gilt als der klügste Mann im Dorf − lässt man nicht antasten, während der Bericht über die Beratungen unterstreicht, wie hoch viele Haukes Leistungen taxieren: Auf seine Frage, wer der erste Mann im Dorf sei, erhält der Spaßvogel Ole Hensen die Antwort: der Deichgraf. Als er dann fragt, wer dann der Deichraf sei, fängt einer an, leise zu lachen. Bald lachen Alle. Hauke als Werfer ausschließen zu wollen ist, so die zu ziehende Schlussfolgerung, eine absurde Idee. Wer so etwas vorschlägt, ist ein Dummkopf. Oles Stimme ist im Gelächter nicht mehr zu hören (LL 3, S. 665). Seine rhetorischen Künste werden im Keim erstickt. Die Wirkung dieser öffentlichen Demütigung auf ihn dürfte klar sein. Das Talent und die Kraft, die ein Werfer braucht, mögen Ole fehlen, aber ehrgeizig, wie er ist, hat er sich als Ersatz dafür einen Ehrenposten herbeigeredet, der auf ihn mit seinem lustigen Maulwerk (LL 3, S. 663) wie zugeschnitten ist und ihm in der Gemeinde ein gewisses Profil gibt. Er soll nämlich bei auftretenden Streitfragen im Wettstreit zwischen Marsch- und Geestbewohnern die Interessen der Marschleute vertreten. Konkurrenten für den Posten wird er wohl keine gehabt haben, denn die allermeisten Mitglieder dieser Gemeinde sind Murrende oder Schweiger, unfähig, ihre Meinungen auf eine halbwegs adäquate Art und Weise zu artikulieren. Am Tag des Wettstreits liegt es Ole fern, seine Aufgabe tüchtig zu erfüllen, und der ausführliche dieser Episode gewidmete Abschnitt, der sich aus sorgfältigst gewählten Einzelheiten zusammensetzt, dient perfekt dazu, seine gemeinen Schliche und tückischen Manöver höchst effektiv zu entlarven. Als Hauke, durch das Sonnenlicht geblendet, seinen ersten Wurf verpfuscht, meldet Ole sich erst, nachdem die ungeduldige Dorfjugend wissen will, wo er stecke. Und dann nur mit den schnodderig-beleidigenden Worten: »Schreit nur nicht so! Soll Hauke wo geflickt werden? Ich dacht’s mir schon.« (LL 3, S. 667) Er denkt nicht daran, den Beweis zu bringen, dass er „das Maul am rechten Fleck“ habe (LL 3, S. 667); und es durchzusetzen, dass Hauke den Wurf wiederholen darf. Im Gegenteil, er redet bewusst einen solchen Haufen Unsinn, dass der schlechte Wurf gilt. Die erste Runde gehört ihm. Die dramatische Spannung erhöht sich erheblich, als Elke sich einmischt. Damit ist für Sprengstoff gesorgt. Ihre Frage, wem zu Liebe Ole seinen Verstand zu Haus gelassen habe, muss für Ole wie ein Stich ins Herz sein, und seine doppelsinnige Antwort − »Dir zu Liebe [,,,] ...denn du hast deinen auch vergessen,« (LL 3, S. 668) − fängt seine Eifersucht und seine 33

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Bitterkeit perfekt ein. Sein Bedürfnis, Haukes dritten Wurf, den alles entscheidenden, zu einem blamablen Fiasko zu machen und damit dessen Ruf auf die Dauer zu beschädigen, wird um so akuter. Ohne dass der Erzähler ihn darauf aufmerksam zu machen braucht, merkt der Leser, dass es Ole egal ist, dass dadurch die Niederlage der Marschleute besiegelt würde. Aus der Ehre des Dorfs macht er sich nichts, und sein ganzes Verhalten ist, so scheint es mir, mit viel mehr Recht als das Verhalten Haukes als »asozial«, rein egoistisch zu bezeichnen. Seine Gemeinheit kennt ja keine Grenzen. Als Hauke sich zu werfen anschickt, statt ihn zu ermuntern, raunt er ihm dicht vor den Ohren und mit seiner knarrenden Stimme zu: »Der Vogel ist dir wohl zu groß [...] wollen wir ihn um einen grauen Topf vertauschen?« (LL 3, S. 669) Nur bringt er Hauke nicht außer Fassung. Dieser wendet sich um und blickt ihn mit festen Augen an: »Ich werfe für die Marsch!.[...].Wohin gehörst denn du?« Die ganze Szene wird dramatisch, nicht episch gestaltet. Oles Eifersucht bricht gleich durch: »Ich denke auch dahin; du wirfst doch wohl für Elke Volkerts!« Seine Störaktion ist damit nicht zu Ende: Als Hauke sich in Positur stellen will, drängt er mit dem Kopf noch näher auf ihn zu, um ihn beim Werfen zu hindern. Dass gerade Elke, also eine Frau. wieder auf die Bühne tritt, um die Situation zu retten und Ole zu einer Lachfigur vor seinen Kameraden macht, indem sie ihn zurückzieht und taumeln lässt – das ist sicherlich für ihn als Mann und abgewiesenen Freier noch eine schmachvolle Demütigung. Noch Schlimmeres muss er gleich einstecken. Gerade das, was er unbedingt verhindern wollte, tritt ein: Nach Haukes gewaltigem Siegeswurf wird sein gehasster Rivale als Held des Tages gefeiert und förmlich umjubelt. Für Ole sieht die Lage im Moment desolat aus. Haukes Stern ist im Aufsteigen begriffen, Oles sinkt. Während der Erzähler Haukes glückliche Gefühle am Ende dieses Tages evoziert, überlässt er es dem Leser, sich die bitteren Gefühle Oles hinzudenken. Der Leser hat es mit zwei dramatischen Personen, nicht mit einer einzigen zu tun. Der Schein täuscht. Um Oles Aussichten steht es nicht so schlecht, wie es auf den ersten Blick aussieht. Mit seiner Bauernschlauheit klar erkennend, dass im deichgräflichen Dienst für ihn nichts zu holen ist, hat er schon vorher seine Ambitionen als Freier auf die dumme Vollina Harders mit ihren runden Waden übertragen. Er wird eine nüchterne Rechnung aufgestellt haben: Vollinas geistesstumpfer Vater wird bald aufs Altenteil gehen, und er selbst wird als ihr Ehemann den Hof übernehmen Eine dumme, lenksame Frau ist wohl mehr nach seinem Geschmack als die nicht zu dominierende, ihm intellektuell weit überlegene Elke. Die Ehe mit Vollina wäre auch ein gutes Sprungbrett zu noch Höherem. Als Kleinbesitzer genießt man ein viel höheres Ansehen als ein Großknecht. Im Wirtshaus sitzt man dann nicht mit Knechten, sondern mit den Kleinbesitzern zusammen. Re34

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det man, dann hören sie einem zu. Der Demagoge kann zu seinen Rechten kommen. Ole quittiert also den Dienst beim Deichgrafen und heiratet Vollina. Im Gegensatz zum Liebesverhältnis zwischen Hauke und Elke kann m. E. hier nur von einer Zweckehe die Rede sein. Oles sozialer Aufstieg setzt sich fort, und dank einer Erbschaft beginnt er ein wohlhabender Mann zu werden (LL 3, S. 680). Andererseits ist Hauke, dessen Ambition, Deichgraf zu werden, durch die Bodenerwerbungen und die Worte seines Vaters auf seinem Todesbett aufs Neue geweckt worden ist, klug genug, zu erkennen, dass er nicht allgemein beliebt ist und dass sein alter Widersacher ein ernsthafter Konkurrent werden kann: Eine Reihe von Gesichtern ging vor seinem inneren Auge vorüber, und sie sahen ihn alle mit bösen Augen an; da faßte ihn ein Groll gegen diese Menschen, er streckte die Arme aus, als griffe er nach ihnen; denn sie wollten ihn vom Amte drängen, zu dem von Allen nur er berufen war. (LL 3, S. 680).10

Nichts im Text deutet an, dass Hauke an einem Verfolgungswahn leidet.11Die erbitterte Feindschaft gewisser Mitglieder der Gemeinde gegen ihn ist real genug. Sowohl Hauke als auch Ole kennen solche grimmigen Gefühle, führen vor dem inneren Auge solche Gewalttaten aus. Entscheidend wird aber sein, ob sie im Griff solcher Emotionen und Fantasien bleiben. Im Fall Haukes ist dem Leser eine Deutungshilfe schon angeboten worden. Als Jüngling erwürgt er wütend den Kater von Trien’ Jans, als dieser ihm den Strandvogel wegreißen will, den er als seine Beute betrachtet. Nach der Tat kommt er jedoch schnell zu einer wichtigen Erkenntnis, nämlich dass man 10 Die Meinung Steins (wie Anm.5), dass Hauke eine Person sei, » die sich in irre-

alem Maß von Hohn, Missgunst und bösen Absichten verfolgt wähnt « (S. 176), teile ich nicht. Auch später empfindet Hauke solche zwar unattraktiven, aber menschlich allzu verständlichen Gefühle, als man ihn als einen Menschen verleumdet, der einem Weib alles verdankt und selbst nichts geleistet hat : »Und wieder ging vor seinem inneren Auge die Reihe übelwollender Gesichter vorüber, und noch höhnischer als es gewesen war, hörte er ihr Gelächter. › Hunde ! ‹ schrie er und seine Augen sahen grimmig zur Seite, als wolle er sie peitschen lassen. « (LL 3, S. 689) Festgehalten werden muss, dass es zu keiner Gewalttat kommt und dass dieser laute Wutausbruch nicht in der Öffentlichkeit geschieht. Später peitscht Hauke die Leute nicht. Im Gegenteil, er erkennt, wie wichtig es ist, durch seine besonnenen Worte und sein beherrschtes Verhalten alles zu tun, um sie als aktive, mitratende Teilnehmer in sein Vorhaben zu integrieren.

11 Dies wird aber häufig behauptet. Stein (wie Anm, 5) schreibt z. B. (S. 176) : »Wie man in der Novelle an mehreren Stellen erfährt, ist Hauke Haien kein abgeklärter Rationalist, sondern eine Person, die sich in irrealem Ausmaß von Hohn, Mißgunst und bösen Absichten verfolgt wähnt.« 35

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grimmig in sich selbst wird, wenn man diese Gefühle nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann (LL 3, S. 651). Mit anderen Worten: Aggressive Gefühle sind zu sublimieren und in produktive Bahnen zu lenken. Ein richtiges Projekt würde perfekt dazu dienen! Später muss der Leser aufgrund der ihm gebotenen Daten beurteilen, ob Hauke sich als unbeherrschter, grimmiger Gewaltmensch gebärdet oder ob er vielmehr eine besonnene, beherrschte Verhaltensweise und konsultativ-kooperative Handlungsprozeduren bevorzugt. Gleichzeitig muss er abwägen, ob Ole einer solchen Sublimierung seines Grimmes zugunsten edlerer Ziele und Projekte fähig ist oder ob er auf Dauer ein grimmiger, bornierter Egoist bleibt, den seine Fehde mit Hauke voll und ganz in Anspruch nimmt. Von seiner brennenden Ambition, Deichgraf zu werden, muss sich Ole, wenigstens für die unmittelbare Zukunft, trennen, nachdem Hauke zu dem Amt ernannt wird. Diese Ernennung verdankt er seinen bisherigen Leistungen. Ihretwegen empfehlen sowohl der Dorfpastor als auch der alte, von Allen als rechtschaffen anerkannte Deichgeschworene Jewe Manners ihn ohne Bedenken als den quasi selbstverständlichen Nachfolger von Elkes Vater. Ole dagegen kommt ihnen als Kandidat für den Posten nicht einmal in den Sinn. Ein tüchtiger Arbeiter mag er gewesen sein, aber nichts deutet daraus hin, dass er die Eigenschaften besitzt, über die ein tüchtiger, verantwortungsvoller Deichgraf verfügen soll. Es fragt sich auch, ob er inzwischen nicht allzu viel Zeit im Wirtshaus vor seinem Branntweinglas verbringt. Der häusliche Verkehr mit seiner dummen Frau, ihrem geistesstumpfen Vater und dem abergläubischen Knecht Carsten kann kaum anregend sein. Dass Elke Haukes Ernennung zum Deichgrafen besiegelt, indem sie ihm ihr Eigentum überschreibt, muss Oles Hass gegen sie noch schüren, und der Leser darf mit Recht vermuten, dass er von jetzt an verbissen nach Mitteln suchen wird, ihren Beitrag zu Haukes Ernennung in der Öffentlichkeit unverhältnismäßig zu übertreiben. Ole muss eine neue Strategie aushecken, denn jetzt gilt es nicht mehr, Hauke das Deichgrafenamt abzujagen, sondern dem jungen Amtsträger das Leben möglichst sauer zu machen und seine Stellung ins Wanken zu bringen. Auf den ersten Blick bieten die herrschenden Umstände seinem lockeren Maul keine Handhabe, denn Haukes gewissenhafte Amtsführung findet Zustimmung bei den klugen, besonnenen Menschen in der Gemeinde. Nur macht der Erzähler klar, dass es innerhalb dieser Gemeinde andere Gruppen gibt. Die von Hauke vorgeschlagenen Arbeiten, so notwendig sie auch sind, finden keine Gnade bei den jüngeren Kleinbesitzern und Kannegießern, die sich im Wirtshaus treffen. In ihnen wittert Ole potenzielle Verbündete. In einer erzählechnisch meisterhaften Szene, bei der der Leser genau auf den Dialog achten muss, kommt die Unzufriedenheit zum Ausdruck, die Ole ausbeuten kann. Ein Geestbewohner, also einer, der wohl 36

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von Deichsachen wenig versteht, lenkt den diffusen Unmut der Kleinbesitzer direkt gegen Hauke: »Das kommt von Eurem klugen Deichgrafen [...] der immer grübelnd geht und seine Finger dann in Alles steckt.« (LL 3, 688) Da der Redner Ole gegenüber sitzt, liegt die Vermutung nahe, dass er ihn gut kennt und dass Oles »Offenbarungen« sein Urteil und seine Worte gefärbt haben. Möglicherweise hat Ole ihn sogar zu dieser Äußerung angestiftet. Früher als Träumer bezeichnet, wird Hauke jetzt viel härter, viel negativer als »Grübler« bezeichnet, während seine Amtsführung als wichtigtuerisches, unnötiges Einmischen in alles diffamiert wird. Dieser die Stimmung im Raum anheizende Auftakt bietet Ole eine ideale Gelegenheit, anschließend eine regelrechte Verleumdungskampagne gegen Hauke zu starten. Marten habe recht. Hauke sei »hinterspinnig« und suche sich beim Oberdeichgrafen einen weißen Fuß zu machen (LL3, 688). Kennzeichnend für Ole ist diese Vorliebe für anzügliche Argumente ad hominem im Gegensatz zu sachlichen ad rem. Seine durch nichts untermauerte Behauptung, Hauke wolle sich beim Oberdeichgrafen einschmeicheln und wie der Wolf im Märchen von den sieben Geißlein seine echten Absichten dabei verstecken, zielt dahin, Hauke als einen gefährlichen, hinterhältigen Intriganten zu denunzieren, der seine wahren, rein egoistischen Ambitionen tarnt. Die Szene fügt sich in das Werteschema ein, das der ganzen Novelle innewohnt. Auf der einen Seite greift Jewe Manners zu abstrakten und sachlichen Substantiven und Adjektiven; die die Vernunft und den Verstand seiner Zuhörer ansprechen; auf der anderen bevorzugt Ole Anspielungen, Bilder und Adjektive, die negative Gefühle wecken. Sowie er spürt, dass seine Zuhörer ihm gewogen sind, macht er eine neue Angriffsfront auf, indem er lachend versucht, aus Hauke einen Mann zu machen, der seiner Frau alles verdankt: »der alte wurde Deichgraf von seines Vaters, der neue von seines Weibes wegen.« (LL 3, S. 689) Wie schon gesagt, weiß der aufmerksame Leser, dass das nicht stimmt. Wenn auch Elke durch das Übertragen ihres Besitzes an Hauke ein großes Hindernis aus dem Weg zu seiner Ernennung zum Deichgrafen weggeräumt hat, verdankt er den Posten doch in erster Linie seinen hervorragenden Verdiensten um die Gemeinde. Die Ironie dabei ist, dass die gegen Hauke erhobene Anklage perfekt auf Ole selbst passt, der doch alles seiner Ehe mit Vollina Harders verdankt. Etwas sollte dem Leser auffallen: Oles frühere Verleumdungen fielen auf keinen fruchtbaren Boden; jetzt aber erzielt sein sicherlich schon längst geprägtes Wort die angestrebte Wirkung: Es erntet bei diesem angeheiterten männlichen Publikum, wo frauenfeindliche Gefühle wohl reichlich vorhanden sind, Gelächter und Beifall. Ole hat zum ersten Mal die Lacher, genauer eine Anzahl davon, endlich für sich gewonnen. Der Aufstieg des Demagogen fängt damit an. 37

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Selbst der schlaueste Bösewicht kann sich aber verrechnen. Und das tut Ole. Neben den Worten Elkes ist es paradoxerweise seine obige spöttische Äußerung, die als unmittelbarer Auslöser bei Haukes Deichprojekt wirkt − etwas, was er sicherlich nie im Sinn gehabt hat. Ein noch aktiverer Deichgraf und noch dazu einer, der als segenbringender Innovator und Garant einer sicheren Zukunft für die Gemeinde geliebt und verehrt werden könnte – ein solcher Rivale muss für Ole ein Albtraum sein. Der Text regt den aktiven Leser dazu an, sich seine bitteren Selbstvorwürfe auszumalen. Wie muss er sich mit dem Gedanken quälen, gerade das herbeigeredet zu haben, was er vermeiden wollte. Oles Ablehnung des Projekts wurzelt aber auch in handfesten, sprich: finanziellen Gründen. Erzählt wird, wie er schon früher seine gesamten Anteile an dem einzudeichenden Vorland an Hauke verkauft hat. Als kritischer Leser fragt man sich: Wie ist es um den gesunden Menschenverstand und den Geschäftssinn eines Mannes bestellt, der seine ganzen Anteile wegen eines einzigen, bei einer teilweisen Überschwemmung ertrunkenen Bocks verkauft? (LL 3, S. 691) Dass er sie an seinen gehassten Widersacher verkauft hat, ist wohl ein sicheres Indiz dafür, dass er dem Vorland keinen Wert beimaß und als schlauer Bauer Hauke gutes Geld für wertlosen Boden abknöpfen wollte. Es liegt auf der Hand, dass seine Freude sich schnell verflüchtigt, sobald von einem Projekt die Rede ist, das seinem Schöpfer einen erheblichen finanziellen Gewinn bringen und dessen Ansehen in der Gemeinde erheblich steigern kann, während er selbst leer ausgeht. Mit einem Schlag muss es Ole scheinen, als ob er, statt Hauke übers Ohr gehauen zu haben, sich selbst betrogen habe. Jeder nur halbwegs versierte Leser weiß, dass in Oles Augen das Projekt so oder so vereitelt werden muss, egal ob es der Gemeinde nützt oder nicht. Aber wie? Beim Leser nimmt die Spannung zu. Schon vor der Bekanntmachung des Projekts hat der Zufall Ole eine Waffe in die Hände gespielt, die eventuell besser als alles andere dazu geschaffen ist, Haukes Stellung in der Gemeinde zu untergraben. Hauke und sein Schimmel werden mit dem Teufel in Verbindung gebracht. Die Geschichte vom Teufelspferd hätte eine private Sache unter drei leichtgläubigen Knechten bleiben können, aber der Jungknecht Carsten quittiert Haukes Dienst und wechselt zu Ole hinüber. Hier fand er andächtige Zuhörer für seine Geschichte von dem Teufelspferd des Deichgrafen; die dicke Frau Vollina und deren geistesstumpfer Vater, der frühere Deichgevollmächtigte Jess Harders, hörten in behaglichem Gruseln zu und erzählten sie später Allen, die gegen den Deichgrafen einen Groll im Herzen oder die an derartigen Dingen ihr Gefallen hatten. (LL 3, S. 706) 38

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Ole bietet sich jetzt die Chance, seinen früheren Wunsch, der Teufel möge den verfluchten Schreiberknecht holen, der Erfüllung einen Schritt näher zu bringen, sei es bildhaft oder sei es buchstäblich. Er will sich jedoch nicht geduldig auf das langsame tückische Wirken dieses brisanten Stoffes verlassen. Etwas muss viel schneller geschehen, soll das verfluchte Deichprojekt storniert werden. Wer zwischen den Zeilen liest, erkennt leicht, wie frustrierend es für ihn sein muss, kein Mitglied der wichtigsten bäuerlichen Vertretungskörperschaft in der Gemeinde, nämlich der Versammlung der Deichgeschworenen, zu sein und deswegen aus der Schlüsselsitzung ausgeschlossen zu sein, die Hauke, auf eine konsultativ-kooperative eher als eine autoritäre Handlungsweise eingeschworen, einberuft, um den zuständigen Herren sein Projekt zu präsentieren. Haukes Rechnung geht nicht auf. Nur Jewe Manners erkennt die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Projekts und ist bereit, den Deichgrafen mündlich zu unterstützen. So vernünftig und schonend seine Worte sind, sie bewirken nichts. Die anderen Deichgeschworenen lachen zwar nicht − dem alten, angesehenen Mann zollt man Respekt −, aber sie sind nicht geneigt, ihm zuzustimmen (LL 3, S. 708), und schweigen. Gerade diese dem Deichprojekt so abgeneigte Stimmung und die Unfähigkeit der Deichgeschworenen, ihre Opposition wirksam zu artikulieren, kann Ole ausnützen, wenn er selbst Deichgeschworener wird. In dem Fall verfügt er über ein Forum, in dem er seinen Widersacher quasi mit »demokratischer« Legitimation verunglimpfen und seine Pläne verhindern kann. Aber solange Jewe Manners noch lebt, so lange muss er sich gedulden. Vorläufig muss er sich damit begnügen, in der von Hauke für Betroffene anberaumten Versammlung den Deichgrafen zu diffamieren und dessen Motivation anzuschwärzen. Dabei kommt ihm Haukes Vorliebe für konsultative Prozeduren entgegen, denn er kann damit rechnen, im Lauf der Diskussion seine knarrende Stimme mit großer Wirkung einzusetzen. Obwohl Hauke dem versammelten Publikum einen sorgfältig ausgedachten Plan über die Verteilung der Kosten und der Arbeit vorführt, ist die Resonanz auf sein Projekt gemischt. Die Gemeinde ist wieder gespalten. Zwar betrachten ernste Männer seinen gewissenhaften Fleiß mit Ehrerbietung und unterwerfen sich nach ruhiger Überlegung seinen gerechten und gerechtfertigten Ansätzen (LL 3, S. 710-711). Die Idealbeziehung zwischen konsultativ vorgehendem Amtsträger und einsichtiger. mitredender Öffentlichkeit könnte kaum besser formuliert werden. Aber zweierlei stört, erstens: sie »unterwerfen« sich, mit anderen Worten, sie benehmen sich wie passive Untertanen, nicht wie mündige Bürger; zweitens: sie trauen es sich nicht zu, sich ihre eigene Meinung zu bilden und sie offen zu äußern. Dieser Gruppe stehen diejenigen entgegen, die zu jeder Zeit bereit sind, ihre Beschwerden laut zu äußern − Beschwerden, die der Text als kurzsichtig und 39

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unbegründet erscheinen lässt. Mit großem erzählerischen (man ist versucht zu sagen: künstlerischen) Können baut der Schulmeister die Szene so auf, dass deren dramatisches Potenzial voll zur Geltung kommt. Obgleich von Ole bis zu diesem Punkt nicht die Rede gewesen ist, ahnt der Leser, dass er irgendwo im Raum lauert und mit großem Eklat in die Diskussion eingreifen wird. Erst als der Unmut der Herren hochwallt, erfährt man, dass Ole die ganze Zeit mit grimmigem Gesicht am Türpfosten gestanden hat − ein klares Zeichen, dass er nicht vorhat, mit konstruktiven Beiträgen an der Diskussion teilzunehmen. Endlich ist es so weit. Mittels eines sicherlich schon längst ausgeheckten Schusses versucht er Hauke und sein Projekt unrettbar zu versenken. Er redet nicht; er ruft, und was er ruft, ist alles andere als eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Plan. Besinnt Euch erst und dann vertrauet unserem Deichgrafen. Der versteht zu rechnen; er hatte schon die meisten Anteile, da wusste er auch mir die meisten abzuhandeln, und als er sie hatte, beschloss er diesen neuen Koog zu deichen! (LL 3, S. 711)12

In rhetorischer Hinsicht geht Ole sehr raffiniert vor. Auf den ersten Blick scheint es, als ob den Bauern ehrlich empfohlen werde, ihrem Deichgrafen zu vertrauen. Zunächst könnte man auch meinen, er wolle Haukes Talent als Rechner ehrlich loben. Der Schein täuscht. Er bezweckt genau das Gegenteil: die Bauern sollen Hauke misstrauen und sein Talent als Rechner als gemeines Kalkül betrachten. Kurz: sie sollen das Gefühl bekommen, dass sie es mit einem Schwindler und einem Lügner zu tun haben. Angesichts dieser schamlosen Verunglimpfung seines Charakters und dieser Verzerrung des wahren Tatbestands hätte Hauke leicht die Fassung verlieren und Ole wütend anfahren können – eine Reaktion, die Ole eventuell provozieren will. Hauke besinnt sich. Einen Augenblick lang herrscht eine Totenstille. Dann, am Tisch stehend, hebt er den Kopf und sieht nach Ole hinüber. Die ganze Präsentation erinnert an eine gespannte Reichstagssitzung. Hauke

12 Stein (wie Anm. 5) behauptet dagegen ( S. 178): » Da dieser Vorwurf von Ole Peters geäußert wird, den der Erzähler durchgehend negativ bewertet, ist ihm von Interpretenseite wenig Beachtung geschenkt worden. « Laut Stein spricht Ole das treffend aus, was der » Rechner « bei seinem Wiederaufgreifen des Deichprojekts im Sinne habe, nämlich, den ökonomischen  Gewinn, den der neue Koog einmal abwerfen soll, in die eigene Kasse einzustreichen. Von Förderung des öffentlichen Besten und angestrebter Wohlhabenheit für Knechte und kleine Leute könne nicht die Rede sein. Auch wenn sie in ihrer faszinierenden Studie »Geräusch, Gerücht, Gerede. Formen und Funktionen der Fama in Erzähltexten Theodor Storms und Arthus Schnitzlers«, Berlin 2016, Stein im wesentlichen folgt, schwächt Valery Leyh Steins Urteil auf S. 159 ab, indem sie schreibt, Ole sei vielleicht nicht bloß als ein Schwätzer und Verleumder zu betrachten und die Vermutung liege nahe, dass seine Aussagen bei näherer Betrachtung einige Elemente der Wahrheit enthalten. 40

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gebärdet sich wie ein gemessener Staatsmann. Er spricht, er ruft nicht. Er will sich nicht auf dasselbe gemeine Niveau wie Ole herablassen. Die Sitzung soll nicht in Chaos ausarten. Ole nennt er deshalb korrekt mit seinem vollen Namen, ehe er dazu übergeht, dessen Taktik kurz und bündig zu entlarven. Ole wisse, dass er ihn verleumde, wisse aber auch, dass ein gut Teil des Schmutzes an ihm, Hauke, hängen bleiben werde. Mit forensischer Genauigkeit nimmt er Oles Darstellung der Ereignisse auseinander. Dem Leser, der inzwischen mit den ihm vom Text suggerierten Wertkategorien vertraut ist, erkennt die diskrete Botschaft, die dieser Szene innewohnt, nämlich dass diffamierende Behauptungen, falsche Konstruktionen, Lügen nicht mit heftigen, inhaltslosen Protesten, Schmähungen und Anpöbeleien, sondern mit ruhig vorgetragenen sachlichen Tatsachen und Argumenten zu kontern seien. Auf Oles frühere Verleumdung anspielend und ihr geschickt eine positive Wirkung zuschreibend, gibt Hauke unumwunden zu, dass Oles »ungewaschenes Wort« (LL 3, S. 711) im Wirtshaus ihn aufgerüttelt habe, das zu tun, was sein Vorgänger hätte tun sollen. Bewusst wählt er die mildere Form dieser Redewendung. Er hätte »ungewaschenes Maul« sagen können, aber er will seine Zuhörer nicht unnötigerweise reizen. Diskret daran erinnert zu werden, dass er in einem gewissen Sinn der Initator des ganzen Projekts sei, kann Ole kaum erfreuen. Einen letzten Treffer hebt Hauke für den Schluss seiner Rede auf: Es stehe Ole doch frei, neue Anteile zu kaufen, wenn er wolle, denn viele seien billig zu haben. So geschickt konstruiert und formuliert seine Rede sein mag, sie erzielt lediglich eine Minimalwirkung. Nur ein kleiner Teil der Versammlung »murmelt» Beifall (LL 3, 712). Man traut sich wohl nicht, sich mit Ole Peters zu überwerfen und eventuell zur Zielscheibe seines lockeren Mauls zu werden. Allein der unantastbare alte Jewe Manners hat den Mut, laut »Bravo« zu rufen. Ole mag schweigen, aber er darf mit dem Erzielten zufrieden sein: Er weiß, dass Hauke Recht gehabt hat. Viel Schmutz wird an ihm doch hängen bleiben und bei noch mehr Leuten wird seine Position geschwächt sein. Ein solcher »Sitzungsbericht« ist in Storms Novellenwerk eine Seltenheit. Man denkt dabei an Henrik Ibsen und Heinrich Mann. Man sollte das Geschick bewundern, mit dem der Erzähler die Spannungen innerhalb dieser bäuerlichen friesischen Küstengemeinde so dramatisch gestaltet. Meines Erachten darf man diese ungeschminkte Wirklichkeit nicht als eine »Oberfläche« abtun, hinter der viel subtilere und profundere psychoanalytische Dimensionen und Themen versteckt liegen. Auch sind die hier angewandten psychologischen Kategorien nicht als schal und abgenutzt zu verwerfen. Kurz: Die Spannungen und Streitigkeiten, die hier geschildert werden, gehören meines Erachtens zum Kern und nicht bloß zur Oberfläche der Novelle. Auch ein Unikum in Storms Prosawerk ist die detaillierte Beschreibung der verschiedenen Etappen der Arbeit am Deich. In der in der Novelle herr41

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schenden Wertskala wird gediegene, gewissenhafte Arbeit mit Faulheit, Nachlässigkeit, Ungeschick und unwissendem Einmischen kontrastiert. Hauke und Ole verkörpern die beiden Pole. Dem Leser sollte es auch nicht entgehen, wie Hauke es als einen wichtigen Teil seiner Amtspflicht betrachtet, aufklärend vorzugehen und den Arbeitern auseinanderzusetzen, wie die Arbeit zu tun sei (LL 3, S. 733), während Ole Kleinknechte nur ausnutzte. Dem Einfluss Oles ist es auch weitgehend zuzuschreiben, dass Haukes Versuche, den Arbeitern näher zu kommen, scheitern: Die von Ole kolportierte Geschichte vom Teufelspferd bestimmt ihr Verhalten ihm gegenüber. Der Tod von Jewe Manners bringt die Handlung einen großen Schritt vorwärts, denn damit verliert Hauke seine einzige Stütze unter den Deichgeschworenen. Paradoxerweise führen gerade seine lobenswerten demokratischen Grundsätze eine Entwicklung herbei, die für ihn nur Schlimmes nach sich zieht. Vermutlich durch den Wunsch geleitet, den Willen der Mehrheit zu respektieren, versucht er nicht, Oles Aufnahme als Nachfolger von Jewe Manners zu verhindern. Dieser wird diese Entwicklung seit langem herbeigesehnt und herbeimanövriert haben. Da Hauke konsultativ vorgeht und Sitzungen der Deichgeschworenen einberuft, statt alles autoritär und ohne Diskussion zu bestimmen,13 versieht er Ole mit einem amtlich anerkannten Gremium, in dem er seine demagogischen Talente voll entfalten kann. Schnell macht sich Ole zum Wortführer der schweigsamen unzufriedenen Deichgeschworenen . Das Ergebnis: Hauke stößt fortan auf hartnäckigen, heimlichen Widerstand (LL 3, S. 718). Statt sachliche, gut fundierte Vorschläge vorzutragen, sorgt Ole für lauter unnötige Einwände, mit denen der Deichgraf fertigwerden muss, soll die Arbeit nicht ins Stocken geraten. Meines Erachtens liegt im Text nichts vor, was suggeriert, dass Ole etwas anderes als ein gemeiner, in Deichsachen inkompetenter Kerl ist. der den demokratischen Prozess durch seine Verzögerungs- und Blockiertaktik pervertiert. Weigerte Ole sich früher verbissen dagegen, neue Anteile am neuen Koog billig zu kaufen, dann wohl weil er mit einem von Hauke gebauten Deich nichts zu tun haben wollte. Hätte er es getan, so hätte man es als ein Signal gedeutet, dass er das Projekt absegne. .Gut möglich ist es auch, dass er das Potenzial des neuen Koogs gar nicht erkannte. Als dieser sich bald als sehr fruchtbar erweist14 und den Anteilsbesitzern große Vorteile bringt (LL 3, S. 725), muss es für ihn bitter sein, sich eingestehen zu müssen, er habe sich 13 Hartmut Vincon (Hrsg,): Theodor Storm: »Der Schimmelreiter« und andere Novellen. Stuttgart 1979, spricht z. B. ( S. 305) von einem »autoritär durchgesetzten« Deichprojekt. 14 Wiederum kann ich Stein (wie Anm. 5) nicht folgen, wenn er behauptet (S.180) , dass infolge der Eindeichung das vorher kostbare Vorland wertlos wird. Dass der fast überall kräftig wachsende weiße Klee „gemäß der vom Autor zur indizialen Kommunikation 42

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selbst geprellt. Dass der neue Koog von Allen als der Hauke-Haienkoog bezeichnet wird, streut Salz in seine Wunden. Zweifellos macht das Ganze Ole nur noch entschlossener als vorher, seinen Widersacher und dessen verfluchten Deich zu vernichten. Nur stellt sich wieder für ihn die Frage, wie dieser Ausgang herbeizuführen sei. Es gehört zum sehr effektiven Erzählrhythmus der Novelle, dass gegensätzliche Situationen und Stimmungen ständig miteinander alternieren. Es steht also oft sehr günstig um Oles Erfolgsaussichten; bis sie dann Opfer eines unvorhersehbaren Rückschlags werden, der aber dann einer oft ebenso unerwarteten erfolgversprechenden Entwicklung weicht. Ole ist kein Bösewicht, der ungeachtet der äußerlichen Umstände wirksam manövrieren kann. Als Demagoge ist er darauf angewiesen, dass ein Wind weht, der seine Machenschaften begünstigt. Im Moment weht keiner. Nicht nur unter Haukes Dach herrscht Frieden. Auch sonst haben sich die Verhältnisse stabilisiert. Nur weiß jeder Leser, der mit den Handlungsmerkmalen von Novellen vertraut ist, die wie Der Schimmelreiter angelegt sind, dass ein Happy end ausgeschlossen ist und dass alles auf eine allerdings noch nicht zu erratende Art und Weise tragisch ausgehen wird. Man ahnt, dass es zu einer ungeheuren Flut kommen wird, bei der einer der beiden Deiche brechen wird, und dass Hauke, wohl mit Frau und Kind, dabei umkommen wird. Sonst würde der gespenstische Reiter im zweiten Rahmen der Novelle fehlen. Der gespannte Leser erwartet auch, dass Ole bei allem eine Schlüsselrolle spielen wird. Nur stellt sich die Frage: Welche ? Und was wird zu diesem dramatischen Ende führen? Ole kommt eine völlig unvorhersehbare Entwicklung zu Hilfe: Hauke erkrankt an Malaria, und danach sind Geist wie Körper bei ihm lange matt. Als endlich ein stärkerer Sturm ihn dazu treibt, seine Frühlingsinspektion durchzuführen, entdeckt er erschrocken eine Höhlung im Deich und ein Gewirr von Mäusegängen. Später stellt er fest, dass der Priel jetzt gegen die beschädigte Stelle fließt. Wäre er gesund, so würde der Gedanke an die notwendigen umfangreichen Reparaturarbeiten ihn nicht in Panik geraten lassen. Jetzt aber drängt es ihn, den Rat der Deichgeschworenen einzuholen,15 eilt er zum Wirtshaus, weil er weiß, dass er mindestens einige von eingesetzter Farbsymbolik“ auf baldige Verödung vorausdeute, scheint mir eine der dieser Deutungsmethode innewohnenden Gefahren zu veranschaulichen. Am Schluss der ersten Binnengeschichte ist das Vorland keine unfruchtbare Einöde, und der HaukeHaiendeich hat sich gut bewährt. 15 Für diejenigen Stormforscher, die Hauke dafür verurteilen, dass er angeblich

ein sozial nicht integrierter Mensch sei, der mit den anderen Mitgliedern der Gemeinde nie zusammenarbeite und auf ihre gerechten Ansichten nie achte, müsste dieser Schritt eine höchst positive Entwicklung darstellen. Eine neue Ära von Eintracht und positiver Zusammenarbeit könnte anlaufen. Das Gegenteil ist der Fall ! 43

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ihnen dort finden wird. Er kennt seine Pappenheimer! Und in der Tat, er trifft dort auf Ole, zwei andere und einen Anteilbesitzer. Statt ihren Aufgaben als Landwirte nachzugehen und ihren Pflichten als Deichgeschworene zu genügen, machen die vier es sich bequem, indem sie Branntwein trinken und Karten spielen. Etwas viel Gravierenderes ist Ole anzulasten, denn gleich stellt sich heraus, dass er früher am Tag den Schaden bemerkt hat, von dem Hauke berichtet. Auch wenn er wohl die Ernsthaftigkeit der entstandenen Gefahr nicht erkannt hat, hätte er den Deichgrafen doch über den Schaden informieren sollen, weil dieser − soviel er weiß – sein Haus immer noch hüten muss. Indem der Erzähler den Wortwechsel zwischen den beiden Parteien wortgetreu wiedergibt, rückt Storms Novelle erneut in die Nähe des gesellschaftskritischen, realistischen Sozialdramas, das in diesen Jahren aufkommt. Schnell merkt der Leser, dass Ole sich zum Führer der Deichgeschworenen aufgeschwungen hat. Seine Meinung gilt. Er ist es, der dafür sorgt, dass es zu keiner fruchtbaren Diskussion kommt, und weder von ihm noch von den anderen kommt halbwegs wertvoller Rat. Haukes Sorgen tut Ole lässig ab: Eine leicht zu erledigende Reparatur genüge voll und ganz. Selbst als Hauke ihn auf den neuen Verlauf des Priels aufmerksam macht, reagiert er darauf nur mit den salopp-despektierlichen Worten: »Du hättest ihn lassen sollen, wo du ihn fandest.« ( LL 3, S. 738)16. Sonst so redegewandt, macht er durch seine kurzen Antworten klar, dass er nur bereit ist, billige, kleinere Arbeiten überhaupt in Betracht zu ziehen. Seine Körpersprache – er stemmt beide Arme auf – ist eindeutig. Seine Metaphorik bezeugt den eingefleischten Demagogen. Da sie die Menschen gegen das Meer schützen, werden Deiche normalerweise positiv bewertet. Ole dagegen stellt das normale Verhältnis zwischen Deich und Meer auf den Kopf, indem er den neuen Koog in ein »fressend Werk« verwandelt, das auf kannibalische Art und Weise den alten Deich frißt (LL 3, S. 738).17 Der heutige Leser weiß, was − in früheren Jahrhunderten wenigstens − mit Raubtieren zu tun ist: sie werden vernichtet. Da er von einer Änderung des Profils des alten Deichs nichts wissen will − der Leser weiß inzwischen,

16 Stein (wie Anm. 5) gibt Ole (S. 179) Recht. Der alte Deich sei tatsächlich erst infolge der Dämmung des großen Priels brüchig geworden. Nur gibt er selbst zu  (S. 250, Anm. 260), Hauke habe schon als Kind  die Schwäche des alten Deichs erkannt.  Dass eine zweite Dämmung, mit der laut ihm die neu entstandene Gefahr wieder zu beseitigen gewesen wäre, nicht zustande kommt, lastet Stein (S. 180) Hauke an. Er habe sie gegen seine bessere Einsicht unterlassen. Dazu wäre zu sagen, dass gerade Ole es ist, der ihn daran hindert, dieser besseren Einsicht gemäß zu handeln. . 17 Stein (wie Anm. 5) nimmt S. 179 diese Formulierung Oles als die tatsächliche Wahrheit an. 44

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dass dies das Mittel ist, das die alten Deiche springflutfest machen könnte− beharrt er hartnäckig auf seiner logisch nicht zwingenden Ansicht, dass der alte Deich, da er bisher gehalten hat, in aller Zukunft halten wird.. Er stimmt einen vertraulichen, höchst despektierlichen Ton an: »Steig nur morgen auf deinen Schimmel und sieh es dir noch einmal an.« (LL 3,S. 738). Haukes Antwort ist kleinlaut, geknickt: Er wolle tun, was Ole rate. Dies ist ein Höhe- und Wendepunkt in der Novelle. Bösewicht und Held greifen einander nicht mit Schwertern oder Dolchen an. Dies ist ein modernes, bäuerliches, nordfriesisches Drama. Aber selbst wenn Ole seinem Widersacher keine körperlich tödliche Wunde beibringt, geht Hauke aus diesem Wortwechsel schwer lädiert und tief kompromittiert hervor: Trotz seiner besseren Einsicht ist er in seinem geistig und körperlich matten Zustand der Versuchung erlegen, den wertlosen, ja verderblichen Ratschlägen Oles zu folgen. Ohne sich selbst der Implikationen seines Sieges bewusst zu sein, rächt sich Ole damit auf die verhängnisvollste Weise, denn Hauke verrät sein Amt und damit auch – potenziell − die Sicherheit der ihm anvertrauten Gemeinde. Am Tag X wird er die Rolle, die Oles »böses Maul« (LL 3, S. 750) bei seinem Selbstverrat gespielt hat, direkt ausdrücken. Wäre Jewe Manners noch am Leben gewesen, so wäre alles wohl anders ausgegangen. Manners hätte seinem Plädoyer für gründliche Reparaturen ruhig zugehört, sich besonnen und den anderen Deichgeschworenen die empfohlenen Maßnahmen dann angeraten. Ole ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Geschickt wird die Handlung so geführt, dass der Leser, obwohl Hauke sich ganz erholt, doch fest damit rechnet, dass Unheilvolles bald einschlägt. Dass am Tag X alles so geschildert wird, dass es auf den ersten Blick aussieht, als ob ein Desaster noch abwendbar sei, erhöht nur die Spannung. Gezeigt wird, wie Hauke seine Amtspflichten gewissenhaft und besonnen ausführt. An die reparierte Stelle stellt er also Leute hin, die mit dem nötigen Material versehen sind, um sofort eingreifen zu können, sollte die Flut den Deich zu schädigen beginnen. Nur im Notfall dürfen sie von den ihnen angewiesenen Plätzen weichen (LL 3, S. 744). Von ähnlicher Rührigkeit ist bei den Deichgeschworenen keine Spur. Ole ist nirgends zu sehen. Selbst als der Wind nach Nordwest umspringt, gerät Hauke nicht in Panik. Zu seiner Beruhigung stellt er fest, dass die Marschleute dabei sind, sich, ihr Gut und ihr Vieh in Sicherheit zu bringen, indem sie zur Geest hinauffahren. Elke und Wienke weiß er außer aller Gefahr auf seiner hohen Werft. Hauke selbst mag vernünftig gehandelt haben, aber seine Anordnungen sind missachtet, ja widerrufen worden. An der kritischen Stelle entdeckt er niemanden. Endlich findet er ein Dutzend Arbeiter weit draußen an der Nordwestecke des neuen Deichs. Einer von ihnen erklärt ihm: »Wir sollen 45

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den neuen Deich durchstechen, Herr! Damit der alte Deich nicht bricht!« (LL 3, S. 750) Erst nach drei Fragen erfährt er Genaueres. Der Deichgeschworene Ole Peters sei da gewesen und habe den Durchstich des neuen Deichs befohlen. Von ihm stammt wohl auch der angegebene Grund dafür, nämlich, dass der alte Deich nur dadurch zu retten sei. Wer die Novelle bis hierher aufmerksam gelesen hat, dürfte einige Fragen stellen wollen. Woher hat Ole sich das Recht angemaßt, die Anordnungen des Deichgrafen zu widerrufen? Worauf hat sich dieser in Deichsachen so unkundige Mensch gestützt? Wenn, wie er immer behauptet hat, der alte Deich halten wird, warum soll man den neuen durchstechen? Und auch wenn Ole den Durchstich des neuen Deichs als das einzige wirksame Mittel betrachtet hätte, um den alten zu retten, wie sinnvoll ist es, den neuen an der Nordwestecke, also weit weg von der kritischen Stelle, zu durchstechen? Der Wind treibt den Priel nicht gegen den neuen Deich, sondern an ihm entlang und direkt gegen den alten Deich. Den neuen an der von Ole angegebenen Stelle zu durchstechen, wird also wenig ändern.18 Vielmehr läuft man dadurch Gefahr, unnötigerweise mit zwei gebrochenen Deichen dazustehen. Der Verdacht drängt sich dem Leser auf, der auf die ihm bisher gebotenen Daten und Winke geachtet hat, dass nicht sachlich stichfeste Gründe, sondern Oles Hass gegen Hauke und seinen Deich bei seinem Befehl ausschlaggebend gewesen ist. Ferner weiß der Leser, dass die Überflutung des neuen Koogs Ole nicht schaden wird, da er kein Land darin besitzt. Nach seinem bisherigen egoistischen Verhalten zu schließen, dürften ihm die Verluste der betroffenen Anteilbesitzer egal sein. Und wo steckt er denn? Müsste er nicht vor Ort sein, um die Ausführung seines Befehls zu leiten und die angestrebte Wirkung zu beobachten? Hätte ein verantwortungsbewusster, besonnener Deichgeschworener die Arbeiter in einer so kritischen und gefährlichen Situation allein gelassen? In die Irre geht man kaum mit der Vermutung, dass Ole sich schnell aus dem Matsch gemacht hat, um mit den anderen Deichgeschworenen in der Sicherheit des warmen Wirtshauses den Lauf der Dinge abzuwarten. Der aufmerksame Leser weiß schon, dass im zweiten Rahmen der Novelle der dortige Deichgraf sich auch so verhält. In dieser Küstengemeinde hat sich nichts geändert. 18 Stein (wie Anm. 5) vertritt das Gegenteil. Er behauptet ( S. 180), dass nur ein Durchstich des neuen Deichs die „Katastrophe“ hätte aufhalten können und dass Hauke, indem er diese Maßnahme verhindere, dafür sorge, dass Häuser in Trümmern liegen, den überschwemmten Fennen schlechte Jahre bevorstehen, und Siele und Schleusen neu zu reparieren sind. Der Durchstich des angeblich nutzlosen neuen Deiches und die Überschwemmung des angeblich schon öden Hauke-Haienkoogs wären impliziterweise kein Unglück gewesen. 46

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In der endgültigen Fassung der Novelle verschwindet Ole jetzt. Der Bösewicht tritt, sich die Hände vor lauter Freude reibend, nicht auf die Bühne.19 Der Leser, den die Fabel in ihren Bann gezogen hat, wird sich trotzdem wohl Gedanken über Oles eventuelle Empfindungen nach diesem verhängnisvollen Tag machen. Dass der neue Deich und der Hauke-Haien- Koog intakt bleiben, wird ihn nicht freuen. Dagegen dürfte es ihn nicht schmerzen, dass Hauke, Elke und Wienke von den Fluten verschlungen worden sind. Man kann sich gut vorstellen, wie er sich jetzt und in der Zukunft im Wirtshaus dem Chor derjenigen anschließt, die den schrecklichen Ausgang als die gerechte Strafe Gottes an einem Teufelsbündner hinstellen. An der Ausgestaltung der ganzen Schimmelreitersage wird er eifrig mitweben. Es wird für ihn ein himmlischer Genuss sein, Hauke als Gespenst zu wähnen, das, von Gewissensbissen geplagt, bei großen Stürmen gezwungen ist, auf den Deichen herumzujagen. Im Wirtshaus kann er die Lüge hartnäckig vortragen, dass das Brechen des alten Deichs Hauke, und ihm allein, anzulasten sei. Dieser alte Deich wäre, Gott weiß, aus dem Sturm heil hervorgegangen, hätte dieser verdammte Kerl den von ihm − Ole − befohlenen Durchstich des neuen gottverfluchten Deichs nicht gestoppt! Die Vorkommnisse im Wirtshaus im zweiten Rahmen der Novelle belegen eindeutig, wie Oles Deutung von Haukes Leben und Werk in den Händen von Antje Vollmers zur dominanten geworden ist. Mit der Gegenüberstellung von Held und Bösewicht bleibt Storms Meisterwek einem altbewährten Erzählmittel treu. Von anderen Schriftstellern gehandhabt, hätte sie plump und trivial wirken können, hätte einer seriösen, geistig befriedigenden Behandlung ernster Angelegenheiten entgegengewirkt. In den kunstgeschickten Händen des fiktiven Erzählers − hinter dem sein Schöpfer Storm weitgehend steht − ermöglicht es Storm, dank seinem psychologische Scharfsinn und seinem klugen Erfassen der in einer kleinen Küstengemeinde herrschenden sozialen Dynamik zwei Gestalten zu schildern, die, schon an und für sich faszinierend, gleichzeitig als Symbole für zwei entgegengesetzte Denk- und Verhaltensweisen dienen. Diese Gegenüberstellung sorgt durchgehend auch für eine dramatische Spannung, die, keineswegs melodramatisch und abgegriffen, StormLeser und -Leserinnen seit eh und je in ihren Bann gezogen hat. Neu an der Novelle scheint mir auch das Ausmaß, in dem diese dramatische Intensität durch Wortwechsel, Diskussionen und Sitzungsberichte erzeugt wird. Der vom Schulmeister-Erzähler bevorzugte Stil − im Gegensatz zu dem des 19 In der vorletzten Fassung dagegen wird berichtet, wie Carsten, die ursprüngliche Quelle der Geschichte des Teufelspferdes, Frau Vollina erklärt, wie der Teufel Hauke in seinen Krallen weggetragen habe. Storm verwarf die Szene, weil er sie wohl zu plump fand. 47

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zweiten Erzählers − ist nicht melodramatisch, »sensationell«, aber auch nicht poetisch-realistisch. Sachlich-nüchtern, eignet er sich für eine Wirklichkeit, die oft recht unattraktiv ist. Bei aller Dramatik bleibt er kritischanalytisch, ja fast »forensisch« wie es dem Richter Storm geziemte und wie er auch in der Spätnovelle Der Herr Etatsrat20 vorgegangen war. Diese Nüchternheit, so scheint es mir, entspricht dem Anliegen Storms, den Leser im Namen ganz anderer Werte über den Charakter und die demagogischen Machenschaften eines bäuerlichen Schurken aufzuklären. Lähmender Pessimismus beherrscht das Feld nicht. Ole gewinnt zwar die Partie, aber Haukes Deich und sein Koog bleiben bestehen, auch wenn sein Ruf verteufelt wird. 1888 konnte Storm trotz seiner vielen Sorgen um den Charakter des zweiten deutschen Kaiserreichs und um die Verbannung aller demokratischen Tradtionen aus der offiziellen Geschichtsschreibung nicht voraussehen, welche schwarzen demagogischen Künste ein späterer Bösewicht einsetzen würde. Dann würde es nicht einfach um einen friesischen Deich gehen; weil dann ja alle Dämme und Deiche gebrochen sind.

20 Vgl. Louis Gerrekens : »Der Herr Etatsrat«. Eine Monsternovelle. In: STSG 61 (2012), S. 5–23. 48

Intertextuelle Spurensuche Zu Theodor Storms Novellenfragment Die Armesünder-Glocke (1888) Erk F. Hansen, Überlingen Eine Warnung vorweg: Diese Arbeit ist in ihrer Methode (und sicher auch in ihren Ergebnissen) spekulativer, als es ihrem Verfasser lieb sein kann, unternimmt sie es doch, Storms nachgelassenes Novellenfragment Die Armesünder-Glocke von 1888 im Kontext des − von Storm später nicht in seine Schriften aufgenommenen1 − Kapitels Wie den alten Husumern der Teufel und der Henker zu schaffen gemacht (1871) aus den Zerstreuten Kapiteln sowie dem ebenfalls unvollendeten Novellenentwurf der Sylter Novelle von 1887 zu untersuchen und Bezüge zu (re?)konstruieren, die Storm aufgrund seines Todes nicht mehr in ein autorisiertes Textgefüge hat umsetzen können. Das Problem einer Arbeit über die Armesünder-Glocke liegt nicht nur im rudimentären Textkorpus selbst, das Storm noch hat hinterlassen können, sondern ebenso im Mangel an begleitenden Zeugnissen, vor allem brieflichen: Es entfällt hier naturgemäß der sonst so fruchtbare Austausch Storms mit seinen diversen Briefpartnern über seine (veröffentlichten) Texte. Dies mag auch erklären, warum es − neben einigen nur sehr vagen allgemeinen Hinweisen in den verschiedenen Biografien zu Storm2 − so gut wie keine Forschungsliteratur gibt,3 die sich explizit mit diesem Textfragment auseinandersetzen würde, vom Kommentarteil der Säkularausgabe (D. Lohmeier) abgesehen. Auch dieser Befund macht die Sache nicht einfacher, leider.4   1 Der Text wurde nur einmal in Westermanns Monatsheften veröffentlicht (Februar 1872), »vermutlich war sie ihm doch zu sehr kulturhistorischer Stoff ohne literarische Gestaltung geblieben«, weil Storm »sich wie in kulturhistorischer Sachprosa auf das Referieren und Zitieren beschränkte.« (Kommentar zu Wie den alten Husumern… von D. Lohmeier, in: LL 4, 727−729.)   2 Georg Bollenbeck 1988, Peter Goldammer 1990, Karl Ernst Laage 1999, David Jackson 2001, Paul Barz 2004, Jochen Mißfeldt 2013.   3 Frau Elke Jacobsen, Bibliothekarin der Theodor-Storm-Gesellschaft in Husum, danke ich für freundliche und hilfreiche Auskunft zu dieser Frage.   4 Für die anderen, nicht ausgeführten Entwürfe Storms (Im Korn (1862), Marie von Lützow (1880‘er Jahre), Florentiner Novelle (1884), Sylter Novelle (1887)) haben sicherlich andere Voraussetzungen zu gelten. 49

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Das Kapitel Wie den alten Husumern… zur Armesünder-Glocke überhaupt in Beziehung zu setzen, rechtfertigt sich durch einen Hinweis von D. Lohmeier im 4. Band der Säkularausgabe der Werke Storms, wo es heißt: Die Beschäftigung mit der Kulturgeschichte der Scharfrichter wollte Storm noch einmal […] nutzen, als er mit der Arbeit an der Novelle ›Die Armesünder-Glocke‹ begann, die dann aber bald durch seinen Tod unterbrochen wurde.5

Und weiter: Da die Novelle […] um die Mitte des 18. Jahrhunderts […] in Husum spielen sollte, konnte er [= Storm] außer seinen chronikalischen Studien auch die kulturgeschichtlichen Kenntnisse verwenden, die er bei seiner Arbeit an der Studie ›Wie den alten Husumern der Teufel und der Henker zu schaffen gemacht‹ erworben hatte.6

Doch auch das Fragment der Sylter Novelle vermag, nicht nur wegen ihrer zeitlichen Nähe, zur Erhellung des von Storm in seinem Torso der Armesünder-Glocke Angelegten beizutragen, verbindet beide doch neben der gemeinsamen Grundlage der Idee des Geschlechterkampfs auch »ein Problemzusammenhang von Schuld und Sühne, wie er der Auffassung des späten Storm vom Wesen der Novelle als Schwester des Dramas bestens entsprach.«7 Also: Zwei sehr fragmentarisch überlieferte Texte, zusammen mit einer Studie, die Storm selbst für die Aufnahme in seine Schriften verworfen hat, betrachtet, um eines dieser Novellenfragmente ein wenig aufzuschlüsseln in seiner Anlage, einen spekulativen Blick zu tun in das, was Die Armesünder-Glocke hätte werden sollen, werden können − kann das gutgehen? Nun, man darf noch einen weiteren intertextuellen Zusammenhang voraussetzen, nämlich des späten Theodor Storms Auffassung von der Novelle als der »Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung«.8 Die Gültigkeit dieses Verständnisses der Novellenform auch für die Armesünder-Glocke wird hier vorausgesetzt, sonst funktioniert’s nicht. * Bei den drei hier herangezogenen Textkörpern handelt es sich gewissermaßen um drei unterschiedliche ›Textsorten‹: Ist das Kapitel Wie den alten Husumern… ein durchformuliertes Ganzes, das von Storm, wenn auch nur einmal (und zwar im Februarheft 1872 von Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften), zur Veröffentlichung freigegeben wurde, so ist die Syl  5   6   7   8 50

LL 4, 729. Ebd., 788. Ebd., 787 (Hervorhebung von mir). So in seiner sog. Zurückgezogenen Vorrede von 1881, vgl. LL 4, 409.

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ter Novelle als sechsseitige Handschrift Storms eine zwischen bloßen Stichworten, ausformulierten Sätzen und eingefügten Klammerbemerkungen schwankende, aber insoweit doch vollständige Handlungsskizze zu diesem Novellenvorhaben, wohingegen die Armesünder-Glocke nur aus bruchstückhaften, dafür aber in sich ausformulierten Fragmenten des intendierten Textkorpus besteht, und zwar aus dem Anfang (828 Wörter), dem Ende (54 Wörter) und zwei ausgeführten Szenen aus der ersten Hälfte des beabsichtigten Ganzen: die sog. »Raufszene« (124 Wörter) und die (mit etwa 2/3 der überlieferten Textmasse umfangreichste) sog. »Kindheitsszene« (1946 Wörter).9 Es ist aus brieflichen Äußerungen Storms belegbar, dass er viel von der Idee zur Sylter Novelle hielt.10 Warum also nahm er den Stoff nach Fertigstellung des Schimmelreiter nicht wieder auf, sondern wandte sich der ganz neuen Idee der Armesünder-Glocke zu? Da er um seinen bedrohlich schlechten Gesundheitszustand wusste und damit auch wissen konnte, dass ihm nicht beliebig viel Zeit für das Schreiben einer neuen Novelle verblieb, musste er darauf achten, ökonomisch vorzugehen, und das heißt hier: musste er ein Sujet wählen, das ihm möglichst wenig vorauslaufende Recherchearbeit abforderte.11 Sylt war ihm über den Chronisten C. P. Hansen zwar als ›Sageninsel‹ einigermaßen vertraut, auch hatte er ja im August   9 Eine Prüfung der Handschrift Storms zur Armsünderglocke [sic], die in der SchleswigHolsteinischen Landesbibliothek zu Kiel aufbewahrt wird, konnte diesen Befund bestätigen: Das Schriftbild Storms lässt darauf schließen, dass er die einzelnen Teile des Textes wohl in einem Zug niedergeschrieben und vereinzelte Korrekturen, Überschreibungen, ergänzende Randnotizen etc. direkt während der Niederschrift selbst vorgenommen hat. Hierzu passt denn auch seine briefliche Äußerung vom 9. Mai 1888 gegenüber F. Tönnies: »[…] aber die Arbeit ruht wie für immer« (vgl. LL 4, 786). − Frau Dr. Maike Manske von der SHLB danke ich sehr für die freundliche Übersendung einer CD-ROM mit hochaufgelösten Scans der Handschrift Storms, ebenso danke ich wiederum Frau Elke Jacobsen von der TSG für die Zurverfügungstellung einer weiteren Seite mit Notizen Storms zum Armsünder-Glöcklein [sic] und den Notizen von Ferdinand Tönnies, auf deren Zusendung die eben zitierte Briefäußerung Storms reagiert. 10 Vgl. hierzu D. Lohmeiers Kommentar in LL 4, 780−783 und weiterhin K. E. Laages vor kurzem erschienene Schrift Theodor Storm auf Sylt und seine ›Sylter Novelle‹ (Heide 2015). 11 Dem widerspricht nicht unbedingt, dass Storm selbstverständlich auch auf weitere Quellen zurückzugreifen gedachte, denn die Laß’sche Sammelung einiger Husumischer Nachrichten befand sich in seinem Besitz und war damit leicht zugänglich; und seine weitere Anfrage an E. Schmidt (Brief vom 16. 2. 1888) richtete sich eigentlich nur auf die rein faktische Information nach dem Anbringungsort einer solchen Glocke: »Wo war ein solches? Wo hing es? Über dem Dach des Gefängnisses? in eignem Balkengefüge? In oder am Kirchthurm oder auf dem Kirchendach?« (zit. nach: LL 4, 785) Dass ihm auch die Glockenkunde von H. Otte (Leipzig 1858) keine weitergehenden Informationen vermitteln konnte, scheint Storm ebenfalls nicht weiter gestört zu haben: »[…] so schaffe ich’s mir an und finde kaum eine halbe Seite über dieses Glöcklein. Tut aber nichts; ich werde schon damit fertig« (an seine Tochter Lisbeth, 10. 3. 1888). 51

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1887 der Insel einen dreiwöchigen Besuch abgestattet und sich so einen realistischen Eindruck von der Örtlichkeit, an der die Novelle spielen sollte, verschafft, aber Husum und dessen Gegebenheiten waren ihm in jahrzehntelanger biografischer und literarischer Aneignung doch vertrauter geworden, und zudem lag die Recherchearbeit zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Armesünder-Glocke ja bereits vor − in der Gestalt des Zerstreuten Kapitels Wie den alten Husumern…, auf das er sofort zurückgreifen konnte. Auch war die dramaturgische Konstellation einer ›Frau zwischen zwei Männern‹ für beide Vorhaben die gleiche und konnte so ohne Weiteres von Friederike auf Maike übertragen werden. − Ich stütze mich bei dieser Argumentation auf den Textbefund zur Armesünder-Glocke: Kein ›Entwurf‹, sondern ein sofortiges Formulieren fertiger Textbausteine, und zwar tragender: des Anfangs, des Schlusses, der sog. »Raufszene« und, wie noch zu zeigen sein wird, mit der sog. »Kindheitsszene« ein Abschnitt, der in nuce bereits die strukturelle Gesamtheit der dramaturgischen Figurenkonstellation und ihrer Entfaltung bis hin zum tragischen Ende in sich birgt. * Wie in Wie den alten Husumern… nimmt der Erzähler auch zu Beginn der Armesünder-Glocke eine Haltung ein, die ihn als ›Mittler‹ einer Zeitenwende dem Leser gegenüber positioniert, d. h. er vermittelt diesem ein Wissen, von dem er voraussetzt, dass sein gegenwärtiger Leser damit nicht mehr vertraut ist. Dies macht Storm bereits im ersten Satz der Armesünder-Glocke deutlich: »Die meisten der jetzt Lebenden werden von einer solchen Glocke gehört oder gelesen haben; sie selbst gesehen oder ihren Klang vernommen hat wohl niemand.«12 Der Erzählbeginn des Zerstreuten Kapitels Wie den alten Husumern… lautet: Es ist vor Kurzem einmal ausgesprochen worden, daß wir erst jetzt völlig aus dem Mittelalter herauszutreten beginnen; und in der Tat finde ich selbst in meinem Gedächtnisse Szenen und Gestalten, welche nur möglich waren, so lange die abstrakte Lebensauffassung der Jetztzeit den derb sinnlichen Zug des Mittelalters nicht völlig verdrängt hatte. Mehr als einmal, in den Hochsommern meiner Knabenzeit, habe ich noch den Schinderknecht auf seinen brutalen Streifzügen durch die Gassen wandern sehen […]13

Beiden Texten wird so ein Rückblickscharakter eingeschrieben, der dem Erzähler die Exklusivität seines Wissen um die ›vergangenen Zeiten‹ dem Leser gegenüber sichert. Mit folgendem Satz verweist Storm aus dem erzählerischen Rahmen auf Maike in der ausgeführten Szene der Novelle: 12 LL 4, 297. 13 Ebd., 232. 52

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[U]nd als einige Jahre später an einem trüben Novembermorgen eine blasse, noch gar junge Dirne, die in der hülflosen Angst der Geburtsstunde mit eignen Händen ihr neugeboren Kind erdrosselt hatte, schwankend aus dem Tor der Fronerei getreten und von unehrlichen Fäusten auf den Henkerkarren gehoben war, um den Kuhsteig hinaus zur Femstätte geführt zu werden, da ist plötzlich ein fein Geläut vom Kirchturm ab erschollen, so tröstlich, als riefe eines Engels Stimme, so lieblich, als sei es auf einmal wieder Frühling worden und die Maililien brächen duftend aus ihren lichtgrünen Blättern. Die arme Dirne aber, die in dem Karren rückwärts auf einem Bunde Stroh saß, ist in bittere Tränen ausgebrochen.14

In diesem Textauszug gibt es zunächst auffällige Motivverknüpfungen bzw. -gegensätze: Dem »trüben Novembermorgen« und dem »Stroh« des solcherart naturmetaphorisch charakterisierten realen äußeren Geschehens stellt Storm den »Frühling« mit den »Maililien« des durch den wahrgenommenen Glockenklang bewirkten inneren Geschehens gegenüber: die Trostbotschaft ihres Mannes hat Maike erreicht, ihrer »hilflosen Angst« tritt nun eine »tröstlich[e]«, »lieblich[e]« Empfindung entgegen, welche die Katharsis ihrer »bittere[n] Tränen« auslöst. Die »unehrlichen Fäuste«, die sie auf den »Henkerkarren« heben, müssen qua seines Amtes der Figur des Scharfrichters zugedacht werden. Storm gibt mit diesem Rahmen also auch schon einen Wink im Hinblick auf den vorgesehenen (und ausformulierten) Schlusssatz der Novelle. Dieses »neue Armesünderglöcklein« hieß in der Stadt »nach seines Stifters Namen nur das »Armowitzer Glöcklein«, womit Storm einen ersten deutlichen Hinweis auf die Gestalt des Franz Armowitzer im ausgeführten Teil der Novelle gibt.15 Hinzu kommt die jahreszeitliche Parallele, die auf die Identität der »junge[n] Dirne« mit Maike schließen lässt, sowie eine sprach14 Ebd., 298f. 15 Hier tritt allerdings ein sprachliches Problem auf, das eine semantische Doppeldeutigkeit verursacht und das ich von daher nicht recht zu deuten weiß: Im Satz »Franz Armowitzer war der Sohn eines zugewanderten Handwerksgesellen, welcher bei dem städtischen Rot- und Glockengießer seit vielen Jahren in fester Arbeit stand« usw. müsste das Relativpronomen »welcher« eigentlich auf den »Handwerksgesellen« des Franz zugeordneten Genitivattributs − also seinen Vater − zurückbezogen werden und nicht auf Franz selbst, wenn dies auch syntaktisch möglich wäre. Die fertiggestellten Teile der Novelle sind aber eindeutig auf Franz selbst bezogen und nicht auf seinen Vater Johann Hinrich Armowitz. Läse man das Relativpronomen als auf diesen gerichtet, würde das gesamte Novellengeschehen um Franz und Maike auf der untergeordneten Generationenebene des Sohnes spielen, von der in den vorhandenen Textfragmenten nicht zu erkennen ist, welche Rolle Franz’ Vater dabei zu spielen hätte, der ja auch nur ein einziges Mal – eben an dieser Stelle – von Storm erwähnt wird. Die Alternative »der« (anstatt »welcher«) hätte sich aber in noch direkterer Weise auf den »Handwerksgesellen« zurückbezogen, so dass Storm vielleicht gerade deshalb die Form »welcher« gesetzt hat, um im Satzgefüge etwas weiter zurück eben auf Franz zu verweisen. 53

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liche Gestaltung, die auf Franz als denjenigen verweist, der − sicher nicht zufällig − genau in diesem Moment, wo Maike als Kindsmörderin zur Hinrichtung geführt wird, die neue Glocke »zum ersten Mal« zum Klingen bringt, noch dazu im ›traurigen‹ Tongeschlecht des Moll:16 der doppelte konjunktivische Vergleich, verknüpft mit dem adverbialen »plötzlich« des überraschenden Auftretens sowie ihre Reaktion, die als Erinnerung auf die im zweiten, konjunktional naturbildlich gefügten der beiden Vergleiche angespielte Situation des ausgeführten Teils gelesen werden kann, schafft Bezüge, die vermuten lassen, dass Franz am Schicksal Maikes fürsorgend Anteil nimmt: Der ausgeführte Teil nämlich stellt auf zwei um drei Jahre auseinander liegenden Zeitebenen (im ersten ist Maike 14 Jahre alt, im zweiten, umfangreicheren noch keine 11 Jahre) eine Beziehung zwischen beiden her, die in der ersten Zeitebene den Kampf zweier Konkurrenten um Maike schildert, wie ihn Storm in verblüffend deutlicher Parallele auch in der Sylter Novelle aufgegriffen hatte; beide Passagen seinen hier einander gegenübergestellt: Da rauschte es seitwärts in den Büschen; mit einem Angstschrei war das vierzehn- jährige Kind entflohen; aber ihrem Liebs- ten saß eine kräftige, junge Faust an der Kehle. ›Das − das wirst du lassen!‹ raunte Franz Armowitzer ihm in die Ohren; ›die ist nicht für deines Gleichen!‹17

Die Verlobten sitzen zusammen in der Laube, sie duldet unangenehm seine Zärtlichkeiten. Als er sie umfassen will, springt der Schiffer [= Lars] herein und wirft ihn; über den Zaun. Ihre Empörung gegen ihn erbittert weist sie ihn zurück. Der Bräutigam geschunden und gestoßen klagt; ihr erscheint innerlich der Kontrast zwischen den Beiden; sie lächelt oft innerlich.18

Wir haben es mit einem gedanklichen Chiasmus zu tun: In der ArmesünderGlocke genießt Maike das Zusammensein mit ihrem »Liebsten«, einem »jungen Patrizier«, wie unmittelbar vorher von Storm deutlich gemacht wird, wenn das Mädchen seufzt, sie mit geschlossenen Augen in seinem Arm ruht und »ihre Lippen […] wie hilflos halb geöffnet vor ihm« liegen − in diese Szene greift Franz also störend ein, indem er Maike gewaltsam (und unter Betonung der Ständezugehörigkeit) für sich beansprucht. In der Sylter Novelle dagegen sind Friederike (so wohl ihr Name; in einem Bruchstück zum Novellenfragment wird sie von ihrem Vater einmal »Fritze« genannt) die Zärtlichkeiten ihres Verlobten deutlich unangenehmer, hier wird Lars’ Eingreifen von ihr zwar zunächst zurückgewiesen, die 16 Es ist die »kleine Terz«, die »so schön und deutlich zu Gehör« kommt, vgl. LL 4, 299. 17 LL 4, 300. 18 Ebd., 295. 54

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Faszination durch seine Stärke lässt sie sich ihm allerdings rasch innerlich zuwenden.19 Storm fokussiert also, dies sei noch einmal betont, auf den ›Geschlechterkampf‹ zwischen Franz und Maike und auf das Thema vor allem ihrer Schuld, wie ich annehmen möchte − einer tragischen Schuld allerdings wohl, gemäß seinem (als wirksam vorausgesetzten) Verständnis der Novellenform in dieser Spätphase seines Schaffens. Ich unterstelle deshalb, dass es Franz Armowitzer selbst ist, der seiner eigenen Frau am Ende zu ihrer Hinrichtung als Kindsmörderin läutet20 − wie das? Das Fragment der Armesünder-Glocke liefert leider keinerlei direkte Hinweise auf den von Storm intendierten Handlungsverlauf, der zu einem solchen Ende hätte hinführen können; wir sind verwiesen auf die einzig breiter ausgeführte Szene zwischen dem elfjährigen Franz und der zehnjährigen Maike, eine Szene, die bereits den »Galgenberg« als »Femstätte« Husums einführt. Storm wählt gleich zu Beginn eine Unheilsmetaphorik, wenn er die − hier noch »blaßroten« − Immortellen, die Maike so gerne pflückt, »am Rande der tiefen Grube«, an einem »Abgrund« also wachsen lässt, in den mancher schon »hinabgestürzt« ist, gar dort »begraben« wurde. Nur wenige Zeilen später wird sie mit einem typischen ›Hexenmotiv‹ in Verbindung gebracht: ›Siehst du?‹ sagte Maike lachend; ›da geht die Kirchtür offen und die Katz springt heraus; sie hat ein’ Besen in den Pfoten; ich denk, sie hat die Bänke abgefegt!‹ ›Was schwatzt du?‹ rief Franz, der aus Gedanken auffuhr; ›solche Katzen haben die Bauern nicht; die sind nur in deinen Mären.‹21

Auch Maikes Koketterie wird von Storm hier bereits angelegt, wenn er sie Franz bitten lässt, ihr lose gewordenes Haarband wieder festzubinden, was zu einem ersten Kompliment aus seinem Munde führt, welches sie mit einer Geste der Zuneigung beantwortet (»dann legte sie ihre Hand in seine«). − Die Begegnung der Kinder mit dem Galgenberg bereitet Storm über ein Todesmotiv vor, das Maikes Faszination von Tod und Leiden verdeutlicht: Sie ist es, die das »vergebliche Arbeiten« der von einem Neuntöter an einem Dorn aufgespießten Biene mit dem Ausruf »O wie wunderbar!« würdigt, 19 Nur einige Zeilen später notiert sich Storm denn auch, worauf es zwischen beiden hinausläuft: »Rasende Leidenschaft von beiden Seiten. Brautnacht in den Dünen.« (LL 4, 295) 20 So versteht auch H. Rölleke (in seinem kurzen Aufsatz »Kinderszenen. Storms Novellenskizze Die Armesünder-Glocke und Kellers Romeo und Julia«, in: Wirkendes Wort 51 (2001), H. 1, 1−3) diese Schlussszene. 21 LL 4, 301. 55

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wo Franz das Tier mit der Aussage »Pfui, das ist grausam!« von seinem Leid erlöst, indem er es vom Dorn nimmt und ihm einen »raschen Tod« gibt. Die Femstätte des Galgenbergs wird von Maike mit einem »Schrei des Entzückens« [sic] begrüßt, der den − jetzt blutroten (!) − Immortellen gilt; jetzt führt Storm Maikes Koketterie Franz gegenüber mit ihrer Todesfaszination zusammen: Den Knaben durchfuhr es; ja sie leuchteten wie Purpur: ›Das ist von Blut!‹ rief er; ›laß sie stehen!‹ Aber die Dirne lachte: ›Du bist nicht klug!‹ sagte sie, riß eine Hand voll roter Blüten ab und hielt sie an ihr schwarzes Haar: ›Siehst du, die lassen hübsch! Gefällt’s dir nicht?‹ und ihre weißen Zähne blitzten durch die roten Lippen.22

Kunstvoll deutet Storm Maikes kommendes Schicksal durch die unauffällige, aber bedeutsame Verwendung des Modaladverbs »auch« in folgender Passage an, wenn er Franz zu Maike sagen lässt: ›Du bist ein dummes eitles Ding […] das ist auch die gewesen, der man hier den Kopf vom Rumpf geschlagen hat; denn hier auf diesen Steinen hat der Block gestanden; und dort auf der Pfahlspitze hat ihr junger Kopf gesessen und die Krähen und Dohlen haben ihr die schönen Wangen abgefressen!‹23

Franz spricht von der »Hasels-Greth«, die als Kindsmörderin [sic] hingerichtet wurde, doch Maikes Erschrecken ist nur von kurzer Dauer; ihre Koketterie, verbunden mit dem Bewusstsein ihrer Schönheit, bricht sogleich wieder durch, wenn sie sich einen Strauß der blutroten Immortellen in ihr dunkles Haar steckt und Franz fragt: »›Nun sag nur, ob’s nicht schön ist! Aber die blonden Stadtdirnen dürften sie nicht tragen!‹ Sie hatte den Kopf zurückgelegt und sah mit ihren brennenden Augen zu ihm auf.«24 Diese Szene führt denn auch zur expliziten Anerkennung ihrer Schönheit durch Franz: »›Ja, es ist schön; − du bist schön, Maike!‹« Zentrale Motivverknüpfungen des Textes sind damit bezeichnet. − Vielleicht hat Storm ja doch diesen wenigen Zügen den ›Gesamtplan‹ der Novelle eingeschrieben,25 im Bewusstsein, dass er sie nicht mehr würde vollenden können ob seiner weit fortgeschrittenen Krebserkrankung: Maike gelingt es, Franz zu verführen, sie heiratet ihn auch; ihre sinnlich-kokette Ader und ihre Todesfaszination jedoch bringen sie durch eine ungewollte 22 Ebd., 304. 23 Ebd. 24 Ebd., 305. 25 Auch H. Rölleke ist der Auffassung, dass hier das »Pärchen« seine »spätere, tragisch verlaufende Liebesbeziehung vorweg[nimmt]« und diese Kindheitsszene damit »den Charakter einer verhängnisvollen Vorausdeutung« hat (Rölleke 2001, wie Anm. 20, S. 2f.). 56

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Schwangerschaft von einem stärkeren Mann, als Franz es ist − es wird noch zu klären sein, wer das im Kontext des gegebenen Figureninventars nur sein kann − und den daraus resultierenden Kindsmord zur versuchten Wahrung ihrer bürgerlichen Reputation ins Unglück: wie die Hasels-Greth wird sie hingerichtet, ihrem Mann bleibt nur, ihr den Trost seines »Armesünderglöckleins« hinterherzusenden… spätestens hier müsste ich eigentlich an die Eingangswarnung dieses Aufsatzes erinnern, und doch setzt Storm ein letztes Zeichen, dass Maike notwendig dem Henker anheimfallen wird, wenn er schreibt: Als sie in die Stadt und vor ihren Häusern angelangt waren, kam ein Ruf von der Straße herauf; ein Mensch in etwas wunderlicher Kleidung stand still, machte einen Ausruf und hinkte weiter um dasselbe zu wiederholen. Maike tat einen Angstschrei, daß Franz auffuhr und sie fest hielt. ›Was fehlt dir?‹ frug er. ›Der Scharfrichter! Das ist der Scharfrichter!‹ rief sie.26

Es gibt noch ein letztes kleines Stückchen Text zur Armesünder-Glocke, das überliefert ist und das mir die hier formulierte Lesart des Novellenfragments zu bestätigen scheint, in dem Storm den Tod Maikes motivlich mit dem Erwachen ihrer Koketterie, ihrer Todesfaszination sowie auch ihrer Faszination durch die männliche Stärke, der sie erliegt, in Eins setzt dadurch, dass er den Vers »O Herr, dein Lenz ist kommen!« variierend wieder aufgreift, als die zum Schafott geführte Maike das »Armesünderglöcklein« hört: Und da sie den lichten Klang vernahm, breitete sie die Arme aus und rief: ›Dein Lenz, o Herr, ist kommen!‹ und neigte demütig ihr Haupt und wie einst das Läuten des Cyriaxglöckleins bei Eisleben von Besessenen und Kranken das Siechtum fortnahm, so trug er hier das Leid der Seele mit sich in die Lüfte.27

* Mit dem Motiv des »Cyriaxglöckleins« greift Storm auf eine seiner Quellen für die Armesünder-Glocke zurück: Heinrich Ottes Glockenkunde (Leipzig 2 1884).Doch dies ist nicht die einzige Quelle, aus der Storm sich informierte, um die Zeit, in der die Armesünder-Glocke spielt, realistisch zeichnen zu können: Eine gewisse Vorarbeit dazu hatte er schon aus Anlass des Zerstreuten Kapitels Wie den alten Husumern der Teufel und der Henker zu schaffen gemacht von 1871 geleistet. Dort lässt sich die Anknüpfung an die Armesünder-Glocke und ihre Hauptfigur, Maike, am ehesten über Margaretha Cars26 LL 4, 305. 27 Ebd., 307. 57

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tens herstellen, deren Fall Storm unter verkürzter Zitierung aus J. Laß’ Sammelung einiger Husumischen Nachrichten (in: LL 4, 242f.) schildert. Der volle Wortlaut der Quellenvorlage Storms lautet wie folgt (von Storm wörtlich zitierte Passagen sind kursiv hervorgehoben): 1687. d. 23 Decemb. wurde alhier wieder Margaretha Carstens in puncto criminis sortilegii nachfolgende Urteil gesprochen: (p) In peinlichen Sachen Hr. Friedrich Bensen als geconstituirten Fiscalis und Peinlichen Anklägers an einem / entgegen und wieder Margaretha Carstens mit ihrem Hrn. Defensore Jacob Nassern peinlich Angeklagtin anderntheils / in puncto criminis sortilegii oder beschuldigter Zauberey / haben Bürger-Meister und Rath der Stadt Husum, nach vorher gehegtem peinlichen Halß-Gericht / wie auch vorgenommener scharffen Befragung und so wol der vorher-gegangenen / als darauf erfolgten freywilligen Bekäntniß hiemit für Recht erkant: dieweilen die peinl. Angeklagtin ausser Pein und Banden nunmehro in der Güte und freywillig bekannt und darauf nachgehendes beständig geblieben / daß sie nicht allein der berüchtigten Zauberey schuldig / sondern auch mit dem Satan bereits im 21sten Jahre ihres Alters ein Verbündniß gemachet / auf dessen angetragene Hülfe sich demselben völlig ergeben / und sein eigen zu seyn versprochen / auch nachgehends der Hülfe dieses bösen Feindes sich würcklich bedienet / und derselben so oft sie es benöthiget genossen / ja gar von der Zeit ihres Verbündnisses dann und wann / und zum öftern mit ihm dem Satan unnatürl. Vermischung getrieben / überdem Vieh umgebracht und beschädiget / und also aus denen Umständen / von GOtt dem Allerhöchsten unmenschlicher und teuflischer Weise abgefallen / und verlassen / daß diesem nach dieser Margretha Carstens peinl. Angeklagtin todter Cörper (q) wegen solcher ihrer freywillig bekant- und begangenen Missethaten gleich als wenn sie beym Leben / zur wohlverdienten Strafe / als auch jezo andern zum merckl. Exempel und Abscheu von dem Scharf-Richter am gewöhnl. Executions- und Richt-Platz geführet und also zur Asche verbrand werden solle. Und dieses cum Confiscatione omnium bonorum. V.R.W.28

Wir erinnern uns: Maike war im ausgeführten Teil des Novellenfragments das Hexenmotiv der ›Katze mit dem Besen‹ beigeordnet worden. Nun gibt es noch eine zweite Stelle in Wie den alten Husumern…, an der Storm erneut auf Margaretha Carstens verweist und damit einen Kontext herstellt, der einiges Licht auf die mögliche Handlungsführung der Armesünder-Glocke zu werfen vermag. Die Rede ist hier von dem Mörder Hinrich Schlachter: Hier [= in der alten Fronerei] hatte zu Anfang des Jahrhunderts der furchtbare Hinrich Schlachter, eine der Schreckgestalten meiner Kindheit, nach Empfang des Todesurteils seine letzten Tage vollbracht. Eine alte angesehene Dame, seine Wohltäterin, hatte er mit vielen Messerstichen Nachts in ihrem Hause ermordet; und sie war nur die Erste gewesen; eine ganze Reihe reicher Matronen, darunter meine eigene Urgroßmutter, sollte er auf seiner Liste gehabt haben. Wie oft hat meine Großmutter mir das erzählen müssen! ›Hinrich, Hinrich, lat he mi doch leven, wat hev ick em doch dan!‹ Diese letzten Worte des mit seinem Mörder ringenden Schlachtopfers […] wie gellten sie in meine Kinderohren! Und weiter dann: am Tage nach dem Morde, während das Entsetzen bleischwer über der 28 J. Laß: Sammelung einiger Husumischen Nachrichten, Flensburg 1750ff. (T. 1, 138−140). 58

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kleinen Stadt liegt, tritt ein Nachbar in das Schlachthaus des Mörders, der eben eine Kuh zu Boden gestochen hat, und erzählt mit Schauder und Wehklage dem scheinbar von nichts Wissenden dessen eigene Tat. Der aber, sein blutiges Messer aus den Zähnen nehmend, hohnlacht und meint: ›En ole Wif oder ’n ol’ Ko!‹ und was darum soviel Aufhebens zu machen sei! Freilich sein Hohn half ihm nicht; das Todesurteil wurde über ihn gesprochen; aber auch er wurde, ähnlich der Hexe von 1687 […] am Morgen der Hinrichtung tot im Gefängnisse gefunden. […] Mit dem bestimmten Glockenschlage […] wurde der Leichnam des Mörders mit Ketten auf den Schinderkarren befestigt, vor das Rathaus gefahren, und demselben das Urteil, wie Rechtens, […] publiziert. […] Hierauf ging es hinaus zur Richtstatt.29

Hier werden Motive verwendet, die sich auch in der Armesünder-Glocke wiederfinden lassen: die Figur der Großmutter (im Novellenfragment die alte Oligard Swendofski), das Erschrecken des Kindes vor dem ›Mörder‹ (Maikes Angstschrei, als sie den Scharfrichter identifiziert), das Läuten der Todesglocke (des ›Armesünderglöckleins‹), schließlich die Lokalität der Richtstätte selbst. Diese Parallelen legen es nahe, dass das ›Margaretha‹und das ›Hinrich‹-Motiv ggf. auch in der Armesünder-Glocke von Relevanz sein könnten. Maikes Tod ist von Storm deutlich genug durch das Exempel der HaselGreth, welches Franz Maike erzählt, vorgegeben. Da die Armesünder-Glocke Mitte des 18. Jahrhunderts spielt, konnte Storm zudem in Laß’ Sammelung ein passendes Edikt des dänischen Königs aus dem Jahre 1755 finden, das ihm, dem Juristen und realistischen Autor, das Ende seiner Figur Maike konkret genug vorgab: Das Herrschaftl. Edict, (c) so alhier im Monaht April [1755] publiciret wurde, befohl: daß die Weibes-Bilder, welche ihre Kinder ermorden, nicht allein mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode gebracht, sondern auch ihre Köpfe auf einen Pfahl gesetzet, und deren Körper unter dem Galgen verscharret werden sollen.30

* Nun weist der Text der Studie Wie den alten Husumern… eine Besonderheit auf, die vielleicht für das hier angestrebte Vorhaben, das von Storm mit der Armesünder-Glocke intendierte Novellenprojekt strukturell zumindest in groben Zügen zu (re?)konstruieren, nutzbar gemacht werden kann: Mir scheint D. Lohmeiers Urteil im Kommentar zu dieser Studie, Storm habe sich »wie in kulturhistorischer Sachprosa auf das Referieren und Zitieren beschränkt« (vgl. Anm. 1), nur in eingeschränktem Sinne zuzutreffen, in29 LL 4, 258f. 30 J. Laß: Sammelung einiger Husumischen Nachrichten, Flensburg 1750ff. (T. 3, Siebentes Stück, 294). 59

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dem sich hier nämlich eine Passage findet, die sich in ihrer Gestaltung deutlich vom Rest dieses Zerstreuten Kapitels abzuheben scheint − gemeint ist die Beschreibung des Scharfrichters auf den Seiten 253−256 des vierten Bandes der Säkularausgabe. Hier weicht Storm m. E. deutlich vom ›bloß‹ referierend-zitierenden Stil des übrigen Textes ab und charakterisiert den »arge[n] Schelm« mit Hilfe von auch komödiantischen Elementen, die dem Text sonst nicht zu eigen sind. Und da zudem dieser Scharfrichter »um 1741« auftaucht, wie es heißt, passt er als literarisch durchgeformte und charakterisierte Gestalt zudem in den zeitlichen Kontext, in dem auch die Armesünder-Glocke spielen sollte. Da er außerdem als recht dominante, über andere Herrschaft und Gewalt ausübende Figur gezeichnet ist, liegt es nahe, in ihm den ›stärkeren Mann‹ zu vermuten, von dem Maike ihr ungewolltes, weil jetzt sogar im doppelten Sinne unehrliches Kind empfangen hat und dies ihren Kindsmord nur um so nachvollziehbarer macht (denn als ›böse‹ Gestalt ist sie bei Storm keinesfalls zu verstehen).31 Wie wird dieser − namenlose − Scharfrichter bei Storm angelegt? Er wird zunächst als »fast überlustiger Geselle« von »üble[r] und verschwenderische[r] Lebensart« beschrieben, seine beanspruchte Dominanz gegenüber anderen kennzeichnet Storm dadurch, dass er sagt, er sei wahrlich kein »Duckmäuser« gewesen. Dieser Scharfrichter ist durch seine »Rauflust» berüchtigt, hat aber auch − und dadurch wird sein Charakterbild etwas aufgehellt − ein durchaus »freigebiges Herz« (so beschenkt er etwa Kinder mit »Zwölfschillingstücken«) und »treibt allerlei Spöttereien« mit seinen Mitmenschen, indem er sie erst − auf seine Kosten − betrunken 31 Diese ›gedoppelte Tragik‹, die Storm damit der Situation Maikes einschreibt, hatte er als Stilmittel bereits erfolgreich im eben vollendeten Schimmelreiter erzählerisch zur Steigerung der erschütternden Wirkung (die Novelle als »Schwester des Dramas«!) eingesetzt: Verläuft der tragische Spannungsbogen zunächst über die gesamte erzählte Lebensgeschichte Hauke Haiens hinweg, mit der Peripetie als Wendepunkt, exakt in der Mitte der Novelle (zwischen dem 12. und 13. Erzählabschnitt, wobei die Abschnitte 1−12 die Jugend Haukes und die Abschnitte 13−24 sein Leben als Deichgraf umfassen), so schreibt Storm dem 2. Teil des Schimmelreiter noch einmal den gesamten tragischen Verlauf von der Konfliktanlage über deren Entfaltung, der Peripetie (die dann, wiederum mittig, d. h. am Ende des 18. Abschnitts, positioniert ist: hier ist es das Deichopfer des Hundes, das Hauke als »Frevel« empfindet und dessen Verhinderung die Stimmung endgültig gegen ihn umschlagen lässt) bis hin zur − noch einmal doppelten, nämlich der persönlich-familiären wie der landschaftlich-gesellschaftlichen − Katastrophe ein, damit eine Potenzierung der Dramatik entfaltend, die dem Schluss der Novelle ihre mythengenerierende ›Wucht‹ gibt − man verzeihe mir, aber das ist einfach großartig gemacht, lässt Storm hier doch noch einmal den ›Romantiker‹ in sich zur Sprache kommen, aber jetzt nicht mehr im Sinne der ›Sentimentalität‹ seiner frühen Novellen, sondern in der Denkfigur der ›Potenzierung‹, wie sie bei Novalis und Friedrich Schlegel in der sog. Jenaer Frühromantik konzipiert wurde. 60

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macht und ihnen dann die Gesichter schwärzt. Auch ein junges Mädchen, die Tochter einer gewissen Grethe Rohrmannsch, wird sein Opfer dadurch, dass er sie so »vollgesoffen, daß sie wie toth dagelegen und ihr die Flammen als ein Rauch aus dem Halse geschlagen«. Als die Mutter das Mädchen nach Hause holen will, scheint sie dem Scharfrichter sein Verhalten gegenüber ihrer Tochter nicht zu verübeln, sogar im Gegenteil: sie lässt sich auf ihn ein »und sei derart in Lust gewesen, daß sie ein Nest mit Eiern von dem Bette gerissen und dabei gekakelt habe wie eine Henne.«32 Wahrlich, eine auffällige Gestalt im kleinen Husum, vor der Maike ihre anfängliche Furcht (es sei an ihren kindlichen Angstschrei »Der Scharfrichter!« erinnert) wohl rasch verlieren konnte, wie Storm selbst in Wie den alten Husumern… betont: »Man sieht, die Scheu vor der Berührung mit dem Scharfrichter ist nicht mehr allzugroß«.33 Damit wird dann auch erzählerisch ermöglicht, dass sich Maike ihm im Verlauf der Novellenhandlung allmählich zuwenden kann − dem Nachfolger des Scharfrichters ihrer Kindheit allerdings wohl, und zwar aus chronologischen, erzähltechnischen wie intertextuellen Gründen: Zunächst sind inzwischen einige Jahre erzählter Zeit vergangen, und der Altersunterschied zwischen Maike und dem Scharfrichter, dem sie verfällt, darf nicht zu groß sein, will Storm hier glaubhaft − sprich: realistisch − bleiben. Zudem ließe sich so Maikes Neugierde auf diesen Menschen besser motivieren, der eine gewisse Faszination auf sie ausüben müsste, soll der Schritt hin zur ehebrüchlichen Hingabe an ihn überzeugen; und schließlich gäbe das Storm die Möglichkeit, den Zeitenwandel, der in Wie den alten Husumern… ein zentrales Element des chronikalen Charakters dieses Textes darstellt, in die Armesünder-Glocke mit hinüberzunehmen. Wie ist es nun um das Verhältnis Maikes zu Franz einerseits und dem neuen Scharfrichter andererseits bestellt? Hierbei ist zu beachten, dass die Figur des Franz Armowitzer einen Wandel durchläuft, der bei Storm nur angedeutet wird, sich aber mit hinreichender Sicherheit aus den überlieferten Textfragmenten der Armesünder-Glocke erschließen lässt: Franz ist als »Knabe« durchaus bereit, um die 14-jährige Maike zu kämpfen, wenn er sich in die Auseinandersetzung mit dem »jungen Patrizier« begibt, um diesem Maike abspenstig zu machen (diese Textpassage wurde oben bereits zitiert). Er zeigt damit eine Stärke und Dominanz, die Maike imponieren muss und ihr zugleich zeigt, wie ernst es diesem Jungen um sie ist. (Dass beide füreinander ›bestimmt‹ sind, wird von Storm bereits in der ausgeführten Kindheitsszene mit wünschenswerter Deutlichkeit erzählerisch 32 LL 4, 256. 33 Ebd. 61

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nahegelegt.) Später dagegen, als Franz es zum »Gesellen« des Glockengießermeisters Marten Peters gebracht hat, drängt sich ein anderes Bild von ihm auf: [E]s wurde stark gemunkelt, der eigentliche Meister dieser beiden klangreichen Glocken sei der Geselle Armowitzer; nur er verstehe es, das Metall zu mischen, den Durchmesser der Wände und das Profil der Glocken zu entwerfen oder die Rippen zu konstruieren […]. Frug aber jemand den Gesellen: ›Was haben die auf den Dörfern jetzt für schön Geläute; davon bist du doch wohl der Meister?‹, so pflegte er nur zu sagen: ›Ich? Wie sollte das geschehen sein? Aber der Meister ist ein Greis, man soll dem Alter helfen, wo man kann!‹34

Hier zeigt er sich wesentlich passiver, bescheidener in seinem Auftreten, indem er den eigentlich ihm zustehenden Ruhm dem greisen Meister überlässt und so auf eine gesellschaftliche Anerkennung (und wohl auch materielle Besserstellung) verzichtet, die dem oben bereits verdeutlichten Geltungsbedürfnis Maikes (sie hatte sich, wie bereits zitiert, über die »blonden Stadtdirnen« erhaben gefühlt) diametral entgegensteht und so ein Motiv für ihre spätere eheliche Untreue abzugeben vermag, indem sie ihrer Faszination durch den ›Stärkeren‹ nachgibt und dem freigebigen Scharfrichter folgt, der zudem auch ihrer bereits in ihrer Kindheit angelegten Todesfaszination besser entspricht. Zudem bereitet Storm mit dem Motiv des hohen Alters des Meisters (»Greis«) dessen ›Ablösung‹ durch Franz − als seinen Nachfolger35 − vor. Es wurde bereits eine längere Passage aus Laß’ Sammelung zitiert, die angebliche Hexe Margaretha Carstens betreffend, und D. Lohmeier weist zu Recht darauf hin, dass Storms Novelle »nicht auf einen Hexenprozeß und eine Hexenverbrennung hin angelegt [ist] […], sondern auf eine Hinrichtung mit dem Schwert wegen eines Kindesmords«.36 Dennoch ist anzunehmen, dass er die Informationen, die er bei Laß finden konnte − und die er teilweise in seine Studie Wie den alten Husumern… eingearbeitet hat −, wohl auch genutzt hätte, um einen Prozess gegen Maike wegen der Tötung ihres vom Scharfrichter empfangenen Kindes auszuführen, denn dies wäre die notwendige Vorbedingung für ihre Hinrichtung, die ja im ausgeführten Textteil motivlich mit ihr verknüpft wird. Welche Rolle Franz dabei gespielt 34 Ebd., 299f. 35 Dieser Sachverhalt scheint mir durch das Lob der Bürger Husums (»Was haben die auf den Dörfern jetzt für schön Geläute; davon bist du doch wohl der Meister?«) deutlich genug bei Storm angelegt − und unterstützt m. E. die in Fußnote 15 thematisierte Lesart, nach der Franz der neue Glockengießermeister sein wird, nachdem er sich bereits als Geselle mit Maike verehelicht hat, wie Storm mitteilt. 36 Ebd., 787. 62

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hätte, lässt sich m. E. nur insoweit aus den überlieferten Fragmenten erschließen, als dass er offenbar Maike verziehen hat, denn sonst hätte er nicht die Armesünderglocke für sie geläutet,37 deren tröstliche Wirkung sich erkennbar an ihr zeigt und die zugleich mit der Rückerinnerung an ihre Kindheit und das Zusammensein mit Franz verbunden ist, wie oben bereits ausgeführt. Klar ist aber die Rolle des Scharfrichters dabei, und hierin dürfte einer der Gründe dafür liegen, warum Storm ihn letztlich als unmoralischen Charakter gezeichnet hat, der andere Menschen rücksichtslos seinen Launen und Interessen unterwirft, denn er wird es sein, von dem Maike nicht nur ihr ungewolltes Kind empfangen hat, sondern der sie auch wegen der Tötung eben dieses Kindes und nach erfolgter Verurteilung mit dem Schwert hinrichtet − eine erzählerische Konstellation, deren Drastik Storm sich bewusst gewesen sein muss, die er aber wohl auch gesucht hat, denn der Stoff der Sylter Novelle, den er sich 1887 bei einem Besuch auf der Insel notiert, kennt ein ähnlich drastisches, auf das althochdeutsche Hildebrandslied zurückgehendes ›setting‹ des Kampfes eines Vaters gegen den eigenen Sohn, ohne dass dieser seinen Vater erkennt: Ik gihorta dat seggen, dat sih urhettun aenon muotin: Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem. sunufatarungo iro saro rihtun […]«38

Nachts Strandfall; der Sylter sammelt seine Kameraden. […] Kampf in der Dunkelheit zwischen Vater und Sohn; sie kommt dazu und findet den Sohn sterbend oder tot.39

Damit gewinnt Storm eine Tragik auch in der Armesünder-Glocke, die dem herben Charakter seines späten Verständnisses von der Novelle als der »Schwester des Dramas« vollauf entspricht und sich ebenso in der Konzeption des Entwurfs zur Sylter Novelle zeigt. * Es muss noch einmal betont werden: Bei dieser (Re?)Konstruktion des Geschehens und der Motivzusammenhänge in der Armesünder-Glocke ist viel 37 Dass tatsächlich er, Franz, es ist, der die Glocke läutet, scheint mir von der Personenkonstellation her − Maike zwischen beide Männer gestellt, wie das auch für Friederike in der Sylter Novelle gilt − eine erzählerische Notwendigkeit im Sinne einer dramaturgischen Zuspitzung zu sein. 38 Althochdeutsche Literatur, Hg. H. D. Schlosser, Frankfurt/M. 1980 (Fischer), S. 264 (Hervorhebung on. mir). Die Übersetzung Schlossers lautet: »Ich hörte (glaubwürdig) berichten, daß zwei Krieger, Hildebrand und Hadubrand, (allein) zwischen ihren beiden Heeren, aufeinanderstießen. Zwei Leute von gleichem Blut, Vater und Sohn, rückten da ihre Rüstung zurecht […]«. 39 LL 4, 296. 63

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Spekulation im Spiel, aber, wie ich hoffe gezeigt zu haben, eine Spekulation, die zumindest eine gewisse, auf textliche Befunde gestützte Plausibilität beanspruchen darf. Hätte der Tod Storm nur ein paar Monate mehr Zeit gegönnt − es wäre mit Sicherheit erneut eine starke Novelle entstanden, der man einen wahrhaft tragischen Gehalt kaum hätte absprechen dürfen.

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Puppenspielkonfigurationen Die Pole Poppenspäler-Verfilmungen von 1935, 1954, 1968 und 1989 Hans Krah, Passau Mit vier realisierten Verfilmungen (D 1935, DDR 1954, BRD 1968 und 1989) ist Pole Poppenspäler das am meisten verfilmte Werk Theodor Storms.1 Dies lässt sich sicher damit erklären, dass Storms 1874 erschienenes Werk aufgrund seines Publikationskontextes – als Auftragsarbeit für Band 4 der neu gegründeten Zeitschrift Deutsche Jugend – zur Jugendgeschichte reduziert und als beliebte Schullektüre kanonisiert wurde. Dies spiegelt sich dann auch lange in den Interpretationen des Werks wider, die den Text von seinem Entstehungskontext lösen und seinen Bedeutungsgehalt auf die Frage einer ›Kinder- oder Künstlergeschichte‹ verkürzen.2 Eine solche Reduktion wird dem Stormschen Text in seiner Komplexität nicht gerecht. Fruchtbar wäre es gerade, den Text im Kontext seines Literatursystems, des Realismus, also der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu sehen und zu verstehen versuchen.3 Und auch für die filmischen Adaptionen gilt: Die schulbedingte Bekanntheit des Textes spielt als Anlass und Motivation für die Verfilmungen sicher eine Rolle, doch lassen sich diese in ihrem Bedeutungspotential nicht auf   1 Gerd Eversberg u. Hans J. Wulff: Theodor Storm in Film und Fernsehen: Filmographie. In: Medienwissenschaft / Hamburg: Berichte und Papiere 148 (2013), S. 1–14, listen 36 Projekte auf, von denen sich sechs auf Pole Poppenspäler beziehen. Zwei davon blieben im Projektstatus (Pole Poppenspäler, BRD 1991, bisher noch unvollendet) und/oder sind nicht mehr zugänglich (D 1944/45, unvollendet, Material wohl verbrannt). Einen Überblick über die Storm-Verfilmungen bieten Hans Krah u. Martin Nies: Storm-Adaptionen im Film. In: Storm-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Christian Demandt u. Philipp Theisohn. Stuttgart 2017, S. 383–391. Neben den Verfilmungen gibt es noch eine Reihe anderer medialer Adaptionen von Pole Poppenspäler, so etwa einige Hörspiele, ein Bilderbuch (Maren Briswalter 2011), eine musikalische Adaption der Gruppe Speelwark (z. B. 1993 in der Volksmusiksendung Heimatmelodie mit Marionettenbegleitung aufgeführt).   2 Eine Ausnahme stellt Stefan Scherer: Romantische Poesie der Kindheit in realistischer Prosa der Erwachsenenwelt. In: Interpretationen. Theodor Storm. Novellen. Hrsg. v. Christoph Deupmann. Stuttgart 2008, S. 48–67, dar, der, in weiten Teilen überzeugend, den Text auf seine poetologischen Kontexte bezieht.   3 Dabei könnte der Fokus auch auf die Gemeinsamkeiten mit anderen Stormtexten gelegt werden: ›Kinderliebe‹, ›Heimholung der fremden Frau‹, psychologischer Subtext, Erzählen, Medienreflexion und Medienkonkurrenzen wären hier einige Stichpunkte. 65

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eine solche Sichtweise beschränken.4 Im Übrigen dürfte auch der im Text fokussierte ›Dialog der Medien‹, der ihm in spezifischer Weise eigen ist, filmische Adaptionen begünstigen.5 Denn zum einen geht es im Text selbst ganz dezidiert um ein anderes Medium, das Puppenspiel, das textuell nur beschrieben und nicht in seiner visuellen und auditiven Dimension unmittelbar wiedergegeben werden kann. Hier kann gerade der Film durch seine audiovisuelle Medialität diese Medienspezifik aufgreifen und Mediendifferenzen für eigene Medienkonkurrenzen fruchtbar machen. Denn auch der Film ist kein Präsenzmedium; der ephemere Charakter des körperlich-performativen Mediums kann nicht unmittelbar wiedergegeben, sondern nur medial abgebildet – und damit aber für eigene Zwecke instrumentalisiert werden. Zum anderen geht es im Text gerade auch um die Wirkung/Auswirkung dieses Mediums: auf den Protagonisten wie auf die Zuschauer,   4 Die Forschung zu den Pole Poppenspäler-Verfilmungen selbst ist überschaubar. Evelyn Viehoff-Kamper u. Reinhold Viehoff: Theodor Storm: »Pole Poppenspäler«. Beobachtungen und einige Erklärungsversuche zur Geschichte der Kino- und Fernseh-Verfilmungen (1935/1945/1954/1968/1988). In: Theodor Storm und die Medien. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realisten. Hrsg. v. Harro Segeberg u. Gerd Eversberg. Berlin 1999, 351–378, fokussieren, wie der Untertitel signalisiert, gerade die Frage nach der Beliebtheit des Textes als Filmvorlage. Die Filmanalysen konzentrieren sich auf die 1954er-Verfilmung im Vergleich mit den beiden westdeutschen von 1968 und 1989, die 1935er wird nur in einem Absatz gestreift. Hans H. Hiebel: Von der Sprache des Buches zur Sprache des Films: Theodor Storms »Pole Poppenspäler«. In: Theodor Storm und die Medien, S. 321–349, interessiert weniger die Verfilmungen als solche, also eine Analyse der Filme und eine Rekonstruktion der transportierten Semantiken. Die Filme dienen stattdessen zur Illustrierung medientheoretischer Überlegungen (›medienlogischer‹ und medienästhetischer Provenienz), wobei es letztlich um das Konstrukt eines spezifisch Filmischen und um Wertung geht. Da diese Überlegungen zudem darauf verzichten, den damaligen State of the Art einzubeziehen (obwohl einer semiotischen Perspektive gefolgt zu sein scheint, werden die diesbezüglichen filmsemiotischen Forschungen eines Klaus Kanzog, Jurij M. Lotman, Edward Branigan und David Bordwell schlicht ignoriert), sind sie eher wenig substantiell und in ihrem heuristischen Wert beschränkt. In Georg Weis: Pole Poppenspäler in Lemgo. Ein Novellenfilm Curt Oertels aus dem Jahre 1935. In: Schlachten und Stätten der Liebe. Zur Geschichte von Kino und Film in Ostwestfalen und Lippe. Hrsg. v. Wolfgang Müller u. Bernd Wiesener. Detmold 1996, S. 184–196, geht es vorwiegend um Lemgo als Drehort der 1935er Verfilmung und um Oertels Filmästhetik und Kunstauffassung. Einige Überlegungen zum ›Zeitgeist‹, also zur ideologischen Funktionalisierung, werden angestellt, diese sind wenig fundiert und bedürften im Einzelnen einer kritischen Überprüfung. In Gerd Eversberg: Der erste »Pole Poppenspäler«-Film. In: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 2 (1990), S. 14–20, werden überwiegend Auszüge aus den Lebenserinnerungen des Puppenspielers Xaver Schichtl zitiert, in denen dieser, aus der Perspektive von 30 Jahren später, 1962, aufgezeichnet hat, wie er in die Filmproduktion einbezogen wurde und wie er diese wahrgenommen hat.   5 Dieser Aspekt ist bei Viehoff-Kamper/Viehoff 1999 (wie Anm. 4) nicht berücksichtigt. 66

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wobei gerade dem Auditiven dieses Andersmediums im Text narrative Relevanz zugewiesen wird, ist doch die Qualität von Kröpel-Lieschens Gesang entscheidend für den Misserfolg. In keiner der vier Verfilmungen wird jedenfalls auf eine ›Abfilmung‹ einer Aufführung des Marionettentheaters verzichtet, wobei diesen Darstellungen durchaus unterschiedliche Relevanz bei unterschiedlichen Semantisierungen zukommt. Alle Verfilmungen machen etwas Eigenes aus dem Stormschen Text, dies gilt es sich zu vergegenwärtigen. Inwieweit sie sich auch dessen Strukturen und Semantiken bedienen mögen, durch die medialen und kulturellen Rahmenbedingungen wie den rein textstrukturell bedingten Transformationen wird immer ein neuer kommunikativer Kontext erzeugt,6 hinsichtlich dessen die Filme argumentativ ausgerichtet sind. Die folgenden Analysen der Filme wollen dies skizzieren, wobei der Fokus auf den jeweiligen Weltmodellen und Anthropologien liegt, die in den Filmen etabliert werden, und dabei zumeist auf die sich darin artikulierenden Genderkonzepte einzugehen sein wird.7 Auf eine Interpretation des Textes muss hier verzichtet werden.8 Zum Verständnis der Ausführungen seien kurz die ›Rahmendaten‹ des Textes in Erinnerung gerufen: Pole Poppenspäler weist einen doppelten Rahmen und eine zweigeteilte Binnengeschichte auf. Auf der Rahmenebene1 verschrif  6 Unter kulturellen Rahmenbedingungen sind sowohl die semantisch fassbaren Wissenselemente des jeweiligen Denksystems zu verstehen als auch die je gesellschaftlich bedingten Faktoren auf der institutionellen Ebene der Organisation des Filmbetriebs (wie Zensur, Anreizsysteme oder sonstige Regularien), wie sie im besonderen Maße für das NS-Filmsystem, aber auch für die DDR-Filmproduktion und letztlich auch für die BRD-Fernsehproduktion gültig waren/sind. Im Folgenden geht es aber nicht darum, wie es zu welchen Filmstrukturen gekommen sein könnte, sondern was diese realisierten bedeuten und implizieren.   7 Auf eine ausführliche Herleitung, wie aus welcher Aufbereitung des Datenmaterials und Detailanalysen solche Systematisierungen medienkomparatistisch zu gewinnen sind, muss aus Umfangsgründen verzichtet werden. Zu einer solchen methodischen Vorgehensweise und ihrer theoretischen Fundierung sei verwiesen auf Hans Krah: Performativität und Literaturverfilmung. Aspekte des Medienwechsels am Beispiel von Franz Kafkas »Der Prozeß« (1925), Orson Welles’ »Der Prozeß« (1962) und Steven Soderberghs »Kafka« (1991). In: Der Rest ist – Staunen. Literatur und Performativität. Hrsg. v. Erika Hammer u. Edina Sándorfi. Wien 2006, S. 144–187, und am Beispiel einer Stormverfilmung auf Hans Krah: Textuelle Dekonstruktion als systemische Integration. Storm-Verfilmungen als ›Ideologisierung‹ am Beispiel von »Viola Tricolor«/»Ich werde dich auf Händen tragen« (BRD 1958, Veit Harlan). In: Theodor Storm und die Medien. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realisten. Hrsg. v. Harro Segeberg u. Gerd Eversberg. Berlin 1999, S. 269–297, verwiesen. Einführend hierzu siehe auch Krah/Nies 2017 (wie Anm. 1).   8 Zur Einführung sei auf Claudia Nitschke: Pole Poppenspäler. In: Storm-Handbuch (wie Anm. 1), S. 179–181, und Scherer 2008 (wie Anm. 2) verwiesen. 67

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tet Erzähler1, was er 40 Jahre zuvor als Adressat eines mündlichen Erzählaktes von Erzähler2 gehört hat, von Paul Paulsen, dem titelgebenden Pole Poppenspäler, der in dieser Rahmensituation2 seine Lebensgeschichte in zwei Teilen berichtet:9 Die Binnengeschichte1, Kindheit, umfasst etwa einen Monat im Herbst (September/Oktober), die Binnengeschichte2 ist zwölf Jahre später situiert, im frühen Erwachsenenalter, und umfasst zeitlich etwa eineinhalb Jahre.10 Die Binnengeschichte2 kann durch die Raumstruktur wiederum in zwei Teile untergliedert werden: Zuerst spielt das Geschehen in einem Raum der Nicht-Heimat, dann im Heimatraum wie in der Binnengeschichte1, zugleich dem Raum der Rahmenebene2. Paul, der Sohn eines Drechslermeisters, lernt in Binnen1 die fahrende Puppenspielerfamilie Tendler, das Puppenspiel und Lisei, die Tochter der Tendlers, kennen, begegnet im ersten Teil von Binnen2 Lisei und deren mittlerweile verwitwetem, zu Unrecht eines Diebstahls verdächtigtem Vater wieder, kehrt mit beiden in seine Heimatstadt zurück, heiratet Lisei und setzt in seinem Elternhaus als Meister die bürgerliche Existenz fort. Vater Tendler kann sich nicht dauerhaft in seinem neuen Leben zurechtfinden und plant nach einiger Zeit wieder eine Puppenspielaufführung, die an einer spezifischen Konstellation scheitert, was Tendler zur Aufgabe seiner Puppen veranlasst, was schlussendlich mit zu seinem Tode führt. Die Kasperpuppe, die im Text signifikant als Zeichen aufgebaut wird, wird während der Beerdigung von unbekannter Hand auf das Grab Tendlers geworfen und mit begraben, dieses Geschehen aber sinnstiftend umgedeutet.11 Damit kann dann ein Schlussstrich unter die ›Mesalliance‹ zwischen Bürgerlichem und Fahrender gezogen und ein zufriedenes, integriertes Leben geführt, ein »volle[s] Menschenglück« (LL 2, 219) erreicht werden – wie durch die Modalitäten auf der Rahmenebene beglaubigt und bestätigt wird.   9 Zeitlich ist die Rahmenebene2 explizit im »Spätsommer« situiert (LL 2, 166), am Hochzeitstag der Paulsens. Dies kollidiert implizit mit den Daten, die aus Binnen2 zu rekonstruieren sind (vgl. LL 2, 209–211), denn aus diesen ist zu erschließen, dass die Hochzeit im Frühjahr stattgefunden hat; diese Inkonsistenz scheint die Sekundärliteratur bisher nicht registriert geschweige denn interpretiert zu haben. 10 Von der Wiederbegegnung im »Januar« (LL 2, 198) bis zum Tod von Tendler bzw. zur »[n]icht lange nachher« erfolgten Geburt des Sohnes Joseph (LL 2, 219). Berichtet wird darüber hinaus vom zwei Jahre später erfolgten Tod des alten Heinrichs. 11 Eine solche (sprachliche) Umdeutung (von Realität) wiederholt sich dann homolog und rekursiv auf der Rahmenebene mit dem als »Schimpfwort« (LL 2, 216) gemeinten »Pole Poppenspäler« – »es bedeutet ja eigentlich das Beste, was das Leben mir gegeben hat« (LL 2, 166) –, wenn dem Ausdruck durch das Erzählen seine Zeichenhaftigkeit eingeschrieben wird. 68

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Pole 1935 – Naturalisierung und ›natürliche‹ Ordnungen Die Verfilmung von 1935, die mit ihrer Länge von 42 Minuten kein Spielfilmformat aufweist, transformiert den Text deutlich.12 Dies ist allerdings nicht notwendig durch diese Länge bedingt. Trotz ihrer Kürze enthält sie auch neu hinzugefügte Elemente und sie orientiert sich bei der Visualisierung an in ihrer Relevanz deutlich veränderten Textdaten, so dass insgesamt neue Paradigmen dominant werden. Auf den Rahmen wird vollständig verzichtet, die Kindheitsgeschichte ist gekürzt. Diese Kürzung bedingt, dass der Kindheit wenig Eigenbedeutung zukommt und insbesondere der junge Paul keine eigene Jugendgeschichte erhält. Den Fokus bildet der erwachsene Paul Paulsen. Die Geschichte des jungen Paul wird dagegen verformt zu einer für einen Jungen üblichen; der junge Paul repräsentiert eher die Belange und das Verhalten der männlichen Jugend generell, als dass er, wie im Text, eine Außenseiterposition einnehmen würde (wobei Paul sich überhaupt nicht in Relation zur anderen Jugend setzen lässt, da diese gänzlich getilgt ist). Als »Mädchenknecht« (LL 2, 195) muss er sich jedenfalls nicht titulieren lassen. So ist das Interesse bei der Ankunft der Tendlers auf das Pferd gerichtet, das den Wagen zieht und das Paul streichelt, weniger auf das Puppenspiel oder Lisei. Faszination für das Puppenspiel als solches gibt es eher wenig, das Interesse gilt dem Neuen, das an sich neugierig macht (Paul erscheint auch deutlich jünger und eher noch Kind als Jugendlicher zu sein). So wird denn auch die Stoffkaufepisode mit dem eigentlichen Anliegen verknüpft und kurzgeschlossen: »Dafür zeigst du mir die Puppen« (04:41). Paul ist damit bereits im Knabenalter nicht einer, der einem Mädchen gegenüber seinen Wunsch artikulieren muss, sondern der fordern kann. Diese geschlechterspezifische Nuancierung einer (im Film nicht thematisierten) Reduzierung weiblicher (Handlungs-)Relevanz verdeutlicht sich auch an Frau Tendler, die in den Hintergrund tritt und deutlich marginalisiert ist; dies zeigt sich etwa daran, dass alle Aussagen zu ihrer Abstammung und insbesondere den Modalitäten der Brautwerbung ausgespart bleiben. 12 Pole Poppenspäler. Deutschland 1935. Regie: Curt Oertel. UA Dezember 1935. Kopie: Bundesarchiv Berlin. Bei der Inhaltsangabe, die Eversberg/Wulff 2013 (wie Anm. 1), S. 4, für diese Verfilmung geben, dürfte es sich um ein Versehen handeln, abgedruckt ist der Inhalt des Films von 1944/45. Die Filmlänge ist als Versuch Oertels zu werten, ein neues Genre zu etablieren, die ›Filmnovelle‹ (vgl. Weis 1996, S. 191f.). Die hier verwendete, freundlicherweise vom Storm-Archiv überlassene Fassung hat eine Länge von 38 Minuten; sie ist mit der bei youtube aufzufindenden Fassung mit 33 Minuten insofern deckungsgleich, als dort genau die letzten Minuten des Films fehlen. Meine Ausführungen zum Film müssen bei Auffinden einer längeren Fassung natürlich mit einer solchen abgeglichen werden. 69

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So, wie in Detailaufnahme gezeigt wird, wie Paul das Pferd bei der Ankunft der Tendlers streichelt, so dient diese Einstellung auch als Rahmen, der die Kindheitsgeschichte mit der Abreise der Tendlers beendet und zugleich als match cut zur Erwachsenengeschichte überleitet.13 Diese beginnt ebenfalls mit dem Streicheln eines Pferdes, nun aber vom erwachsenen Paul, der sich auf der Wanderschaft befindet. In drei Sequenzen wird diese Wanderschaft in der freien Natur zelebriert, bevor Paul in »Heiligenstadt« (17:55), wie durch das Ortsschild expliziert ist, eintrifft und seine Gesellenstelle bei der Meisterin antritt. Diese Fokussierung eines Geschehens, das im Text nur präsupponiert und implizit zu erschließen ist, lenkt auf zweierlei: Erstens wird die Wanderschaft betont und damit die Einbindung Pauls in die gegebene, ›zünftige‹ Ordnung, wie dies bereits an seiner Kleidung zu sehen ist. Zweitens wird das Paradigma Natur aufgerufen bzw. als relevantes verstärkt, denn auch im ersten Teil sind immer schon Naturbilder zu sehen; auch dies ist etwas, was im Text so nicht gegeben ist. So wird bereits zu Beginn des Films die Ankunft des Tendlerschen Wagens in die Stadt gezeigt, wobei eine Brücke über ein Gewässer passiert wird, das den Vordergrund des Bildausschnitts einnimmt. Natur dominiert durch ihre permanente Visualisierung den Film. Der folgende Teil orientiert sich weitgehend am Text: Paul und die Meisterin beobachten Lisei vor dem Gefängnis, Paul erkennt Lisei – während es im Text Lisei ist, die Paul (an der Stimme) erkennt –, Tendler wird wieder aus dem Gefängnis entlassen. Den Antrag, beide mit zu sich nach Hause zu nehmen, der ja ein Heiratsantrag ist, macht Paul zwar im Beisein von Lisei, aber angesprochen wird Tendler. Auch in diesen Nuancen zeigt sich das patriarchale Denken, das dem Film wie selbstverständlich zugrunde liegt und die Ordnung der dargestellten Welt spiegelt, also nicht von spezifischen Handlungen oder Figuren abhängig ist. Denn dass dieses Verhalten nicht in Tendler als einer individuellen Person begründet liegt, ist bereits an dessen Charakterisierung und Porträtierung zu sehen: Tendler ist körperlich als hager und fast kahlköpfig gezeichnet, auf keine Weise als vital und dominant. Er erscheint als alt und gebrechlich, als nicht passend für die Zeit.14 13 Ein match cut ist ein filmisches Mittel, mit dem über die formale Ähnlichkeit zweier aufeinanderfolgender Einstellungen argumentativ auch ein inhaltlicher Zusammenhang postuliert wird. Hier verdeutlicht er die charakterliche Statik, dass Paul also Paul geblieben ist. Vgl. hierzu wie allgemein zu den Grundlagen der filmanalytischen Vorgehensweise und zur verwendeten Terminologie Dennis Gräf u. a.: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. 2Marburg 2017. 14 Diese Konnotationen aufgrund des Äußeren werden vor der Folie der üblichen Körperlichkeit von positiven NS-Protagonisten noch deutlicher. 70

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Unmittelbar nach der Rückkehr in die Heimatstadt Pauls folgt eine neu hinzugefügte Sequenz: die Bewerbung um die Meisterwürde resp. das Freisprechen. Offiziell und an Traditionen (die auch zeitgenössisch für die 1930er Jahre bereits als veraltet zu sehen sind) angelehnt (mit Meisterlade und Sprüchen), im Freien situiert, wird hier vorweggenommen und geradezu statuiert, dass Paul einwandfrei gesellschaftlich anerkannt und nicht abweichend, dass er Teil der Gemeinschaft ist. Zugleich wird expliziert, dass Lisei ehrlicher Leute Kind ist. Bereits der Meisterin gegenüber hatte Lisei betont, dass auch der Vater ein Handwerk erlernt hat, und damit wird impliziert, dass er, da sozial abgerutscht, zum Puppenspieler geworden ist, und eben nicht einer ist, also tatsächlich ontologisch anders. Die einzig abweichende Meinung hiervon vertritt der schwarze Schmidt, die somit singularisiert ist und letztlich selbst, in der Physiognomie des schwarzen Schmidts zu sehen, stigmatisiert wird.15 Es ist die Rolle des schwarzen Schmidts (in deutlicher Abweichung zu den Konstellationen im Text), rhetorisch durch den Vorwurf gerade die Nichtigkeit des Vorwurfs zweifelsfrei klarzustellen. Und hierzu bedarf es keiner Diskussion, wie die unmittelbar folgende Einstellung, die Paul dabei zeigt, das Schild »Drechslermeister Paul Paulsen« (27:17) über seiner Tür anzubringen, beglaubigt. Die Sequenz um die Meisterwürde dient zudem dazu, Paul als ›Mann‹ zu inszenieren, so, wie es der Semantik der NS-Führerfiguren entspricht:16 als selbstbewusst, ruhig, gelassen, über den Dingen stehend, mit wenigen, aber markanten Worten die Lage jederzeit im Griff habend, anerkanntermaßen, natürlicherweise Recht für sich beanspruchend, selbst angreifend, statt sich verteidigend. Dieses Integer-Sein korreliert dann konsequenterweise damit, dass die Gesellschaft von ihrer Rolle als probleminitiierende Größe (wenn es um die Akzeptanz von Tendler und seiner letzten Aufführung geht) entlastet – und dieses Potential auf eine andere Instanz verlagert wird: Aufgegriffen, und dies ist sicher die größte Transformation hinsichtlich der Textvorlage, und dramaturgisch-narrativ funktionalisiert wird am Ende das installierte Paradigma Natur. Die Aufführung, die Tendler plant, soll in der freien Natur 15 Der schwarze Schmidt ist physiognomisch und in der Art der Darstellung eher als das gekennzeichnet, was im Nazijargon als asozial, wenn nicht gar als Untermensch gilt. Dass Weis 1996 (wie Anm. 4), S. 188, darin eine Figur erkennen will, die »dem zeitgenössischen Männerideal nahe kommt«, ist mit Kenntnis des NS-Films nicht zu halten. 16 Auch wenn dies hier nicht dominant inszeniert ist, wie etwa bei Hauke Haien, so ist dies doch an die üblichen Inszenierungsstrategien angelehnt. Vgl. hierzu Martin Nies: Zur NS-ideologischen Funktionalisierung von ›Literaturverfilmungen‹: Der Schimmelreiter, Curt Oertel/Hans Deppe (D 1934). Mit einer Analyse zentraler Aspekte der Novelle von Theodor Storm. In: Literaturverfilmung: Perspektiven und Analysen. Hrsg. v. Eugenio Spedicato u. Sven Hanuschek. Würzburg 2008, S. 39–70. 71

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vor der Stadt stattfinden. Er schleicht sich dazu heimlich aus dem Haus, dabei verliert er den Kasper, den ihm Lisei zwar nachträgt, was aber den ›natürlichen‹ Lauf der Dinge nicht mehr ändern kann. Denn zum einen wird allein das Fehlen des Kaspers symbolisch als der wesentliche Grund für das Missglücken des Projekts gewertet. Ohne Kasper kann kein Stück aufgeführt werden, Tendler selbst ist schuld, sein Ausspruch »Mir gelingt nichts mehr … nichts mehr« (34:01; »… nichts mehr« wird als Quintessenz 35:19 wiederholt) fungiert als Eingeständnis, dass das Theaterspielen bzw. die damit im Film transportierte Semantik obsolet ist. Auffälligerweise ist es nicht Kröpel-Lieschens Gesang, der das Scheitern verursacht. Dieser wird zwar in der Probe vorgeführt und bemängelt (»Das muss halt besser werden« heißt es, 29:24), er spielt in der Aufführung aber keine Rolle, denn zu dieser kommt es nicht mehr. Es ist zum anderen die Natur selbst, die eine Aufführung dauerhaft verhindert. Aufkommender Sturm und Platzregen sorgen nicht nur dafür, dass sich das eingefundene Publikum zerstreut, sondern auch dafür, dass die Bühne vollkommen zerstört und die Puppen weggeschwemmt werden. Die Veränderungen lassen sich nun als dieses System, das sie konstituieren, kulturell verorten. Sie sind durchaus solche, die als NS-ideologische Versatzstücke auf einer abstrakten Ebene auch andere Texte/Filme der Zeit auszeichnen und zur entsprechenden Paradigmenvermittlung beitragen. Einige dieser Bezüge wurden bereits angesprochen, wie ein bestimmtes Verständnis der Relevanz der Geschlechter (auch die Befunde zu KröpelLieschen lassen sich hier zuordnen) und die Inszenierung/Aufwertung Pauls als (potentielle) Führergestalt. Aber gerade auch das Ende ist in seinen Veränderungen in diesem NS-Kontext zu sehen. Zum einen artikuliert sich hierin die Abgrenzung vom Vergangenen, wodurch das Eigene als das Neue in Szene gesetzt wird; eine Argumentationsfigur, die im frühen NSFilm der 1930er Jahre immer wieder installiert ist.17 Tendler wird im Film, das wird als zentrales Merkmal attribuiert, als alt und rückständig gezeichnet. Seine Proben gehen heimlich vonstatten und werden als Normverstoß und Alterstorheit gewertet. Der erwachsene Paul distanziert sich von der als unangebracht semantisierten Leidenschaft des Schwiegervaters und hat kein Verständnis. Hier wird eine Grenze installiert, die, wie auch die Semantisierung von Kröpel-Lieschen verdeutlicht, wesentlich an das Merkmal alt, veraltet gekoppelt ist.18 Tendler und Kröpel-Lieschen bilden eine 17 Sehr deutlich ist dies etwa in Serenade (D 1937) zu sehen, der Verfilmung von Storms Viola tricolor. 18 Kröpel-Lieschen ist als alte Frau gezeichnet, die außer ihrem Buckel darüber hinaus keine zusätzlichen, spezifisch abweichenden Merkmale hat (im Unterschied zu den Kröpel-Lieschens der 1954er oder 1968er Verfilmung). 72

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verschworene Gemeinschaft, die durch eine alternierende Montage zu Lisei und Paul hervorgehoben wird, sodass die zunächst rein räumliche Alternation als semantische Parallelmontage ›alt vs. jung‹ zu verstehen ist. Puppenspieler Tendler steht damit repräsentativ für das Alte, das dann eben problemlos zurückgelassen werden kann bzw. von dem man sich für eine eigene Zukunft lossagen muss. Dass das Alte, Rückwärtsgewandte grundsätzlich keinen Platz mehr hat, wird zum anderen durch eine zweite, damit verbundene Argumentationsstrategie begründet bzw. evident gemacht: Die Funktionalisierung von Natur, die als ideologisches Regulativ instrumentalisiert wird – die Gewalt der Natur selbst ist es, die für die Problemlösung sorgt – und wodurch verdeutlicht wird, dass dies als ein allgemeingültiges Prinzip zu verstehen ist.19 Insbesondere das ebenfalls neu hinzugefügte und visuell fokussierte Mühlrad, das die Schlusssequenz als Topos rahmt – beim Tode Tendlers steht es kurz still, nach der Begräbnisszene dreht es sich weiter –, symbolisiert die Analogisierung des Sozialen mit der Natur, mit der der Status der eigenen Ideologeme (als kulturell etablierte Ideologie) kaschiert wird. Schließlich ist die Betonung der Ehrbarkeit von Lisei in der völkisch-rassisch geprägten Weltsicht zu begründen: Tendler darf nicht eigentlich ›Zigeuner‹ sein, denn dann wäre Pauls Verbindung mit Lisei im Kontext ›Rassenschande‹ zu sehen; dem muss der letzte Verdacht genommen werden, zumal Paul mit seiner ehrlichen, aufrechten Gesinnung geradezu als Prototyp des anständigen, geradlinigen Deutschen präsentiert wird.20 Die Ausführungen zum jungen Paul verweisen schon darauf, dass auch das Puppenspiel selbst reduziert wird. Es gibt keine zwei Aufführungen, über die berichtet würde, sondern nur eine, die des Faust, der vom Stoff her zum einen grundsätzlich den ›Nationalmythos des faustischen Deutschen‹ konnotiert und auf ihn verweist. Die etwas ausführlicher visualisierte Puppenspielaufführung selbst – nachdem der Kasper durch eine zweite Figur ersetzt wurde – zeigt zum anderen eine Szene, die mit diesem Fauststoff selbst nichts zu tun hat, sondern eine rein burleske, eigenständige Hanswurstiade ist, die zur Unterhaltung und Belustigung dient. Aus Neugierde 19 Insofern die Oertelsche Filmnovelle dem NS-Kulturfilm angenähert sein soll, plausibilisiert sich die rhetorische Funktionalisierung von Natur auch durch das Genre, denn gerade hier im sog. Kulturfilm findet sich eine derartige Argumentationsfigur gehäuft. 20 Wenn im wikipedia-Eintrag zu Pole Poppenspäler zu lesen ist, dass sich der Text einer NS-Vereinnahmung entzieht und damit die Verfilmung gescheitert sei, dann wird mit falschen Prämissen argumentiert: Eine Verfilmung ist nicht an der ursprünglichen Textsemantik zu messen bzw. nicht damit zu identifizieren, wie die Ausführungen deutlich gemacht haben sollten. Solche Veränderungen sind nicht dem Text oder dem Autor anzulasten, gefeit vor einer solchen Adaption sind sie aber nicht. 73

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und Versehen beschwört Wurstl als Diener Fausts in dessen Laboratorium Teufel herbei und lässt sie wieder verschwinden, den beiden Zauberformeln gemäß, die er im aufgeschlagenen Folianten findet und sich laut vorliest. Ihre Komik gewinnt die Szene durch das in Slapstickmanier wiederholte, immer schneller aufeinanderfolgende Herbei- und Hinwegzaubern der Teufel, das Wurstl praktiziert, sobald er das sich zunächst zufällig ergebende Geschehen steuern kann. Eine mediale Auseinandersetzung im Sinne einer Reflexion von Medien und deren Möglichkeiten wird dabei aber gerade nicht initiiert. Künstlichkeit und Klamauk werden genau und eindeutig dem Puppenspiel zugewiesen, die Medialität des Bühnenstücks greift nicht auf die Welt aus und tangiert nicht die Paradigmenvermittlung des Films; dieser lässt sich dagegen insgesamt als unmittelbar, authentisch die Wirklichkeit spiegelnd deklarieren – wiederum eine für den NS-Film zentrale Strategie. Dass die Filmmusik deutlich volksliedhafte Züge trägt, unterstützt diesen Charakter des Ursprünglichen und Natürlichen zudem. Pole 1954 – Harmonisierung und utopische Gemeinschaft Die DDR-Verfilmung von 195421 greift dagegen auf ein anderes musikalisches Register zurück. Die Musik ist symphonisch in Dur, angelehnt an das Genre romantische Musik. Der Rhythmus ist zurückgenommen, insbesondere das Legato der Streicher resp. Geigen erzeugt einen schmelzenden Klang, der grundlegend harmonisch ist und als ›Weichzeichner‹ fungiert: Letztlich handelt es sich um eine typische Filmmusik für solche Genres, die das gemeinsame Positive betonen, ihre narrativen Probleme als wenig problematisch an sich darin integrieren und schon dadurch als zu lösende propagieren (exemplarisch der Heimatfilm). Diese Filmmusik indiziert bereits, was aus der Stormschen Vorlage gemacht wird. Anhand der 1954er Verfilmung lässt sich zunächst gut aufzeigen, dass auch, wenn große Übernahmen gegeben sind, sich dennoch insgesamt eine neue Ausrichtung der Gesamtaussage ergeben kann, die dem neuen Medium, dem neuen Text und der anderen Kultur geschuldet bzw. durch diese Faktoren bedingt ist. Die Verfilmung von 1954 übernimmt in weiten Teilen zwar die Stormsche Vorlage und folgt der Narration. Dass dabei dennoch eine sehr eigene semantische Umsetzung erfolgt, liegt an der Veränderung der Erzählsituation und an den Änderungen, die sich durch die technisch-mediale Umsetzung einerseits und durch den Bezug zum Stormschen Prätext andererseits ergeben. 21 Pole Poppenspäler. DDR 1954. Regie: Artur Pohl. UA 25. 12. 1954. Westdeutsche EA unter dem Titel Dorf in der Heimat am 16. 3. 1956. Timecode nach der DVD-Fassung von ICESTORM Entertainment GmbH: PROGRESS Film-Verleih GmbH. DEFA-Stiftung 1999. 74

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So bewirkt die zunächst rein formale Transformation der Umstellung von Textteilen, dass der Film (ebenso wie die 1935er Verfilmung) den Fokus auf die junge, erwachsene Generation legt. Der Film setzt mit dem erwachsenen Paul ein und realisiert die Kindheitsepisode als Rückblende. Die Geschehnisse sind als vergangene markiert, dies wird deutlich, da diese Rückblende an zwei Stellen unterbrochen und an die Gegenwart, genauer an die Erinnerung Pauls, rückgebunden wird. Dies hat Auswirkungen auf den Status des Puppenspiels. So wird diesem durchaus eine deutliche Präsenz zugesprochen (diese Präsenz ist aktantiell bereits durch die auffällige Kaspermarionette mit übergroßer Nase gegeben), erzeugt etwa durch die markante Grenzüberschreitung, wenn Kasper am Ende der Genovefa-Aufführung durch einen Sprung von der Bühne in der nächsten Einstellung direkt im Schlafzimmer von Paul landet und damit die Realitäts- und Zeitebenen enggeführt werden. In dieser filmischen Realisierung der Affizierung Pauls durch das Puppentheater (im Text artikuliert durch seinen Vater: »du darfst nicht zu oft in diesen Puppenkasten; die Dinger könnten dir am Ende in die Schule nachlaufen« LL 2, 175) wird also deutlich die Faszination, die für Paul vom Puppenspiel ausgeht, wie sie auch den Text auszeichnet, in Szene gesetzt. Diese Faszination ist durch die Veränderung der Erzählsituation aber eine, die bereits der Vergangenheit angehört. Sie gehört zur Kindheit Pauls und erscheint als solche auch bereits als überwunden und von rein retrospektiver Relevanz. Zudem etabliert der Film neue Ebenen des Point of Views. Paul fungiert nicht mehr als Ich-Erzähler, bzw. durch eine Dissoziierung von auditiver und visueller Vermittlung erscheint Paul nur mehr visuell als Instanz, an der eine subjektive Perzeption (wie Erinnerungen) gebunden ist (gekennzeichnet etwa durch den konventionellen Blick nach innen), aber nicht mehr auditiv: Als Voice Over fungiert eine Erzählstimme, die nicht mit Paul identisch und diesem übergeordnet ist. Ein nicht näher identifizierbarer, heterodiegetischer, männlicher Erzähler führt in die Geschichte ein und steht zwar distanziert dem Geschehen gegenüber, scheint diesem aber auch mit einer gewissen Nähe verbunden zu sein, wie die jovial anmutende Sprechweise indiziert. Insgesamt wird dadurch im Vergleich zur Textvorlage eine völlig neue Art des Erzählens etabliert, die sich in etwa als Zeigeakt und Vorführen einer zur Schau gestellten Realität bestimmen lässt, wobei der Rezipient zum Zuschauer wird (und die Protagonisten quasi zu Marionetten werden). Deutlich geht es um den Aspekt einer Vermittlung, bei der der Rezipient zur Orientierung an die Hand genommen wird. Diese Änderung korreliert damit, dass zusätzlich auch visuell ein neuer Rahmen eingeführt wird: Auf (auch bereits für die 1950er Jahre) durchaus konventionelle Weise beginnt der Film mit der Abbildung eines Buches, auf dem »Theodor Storm« (0:08) eingeprägt ist. Dieses Buch wird aufgeschla75

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gen, der Titel »Pole Poppenspäler« (0:15) ist zu lesen, und dann umgeblättert, so dass gedruckter Text den Bildraum ausfüllt.22 Am Ende des Films wird diese Einstellung wieder aufgegriffen und das Buch geschlossen (1:24:20). Der Film bindet sich also explizit an den Stormschen Prätext an, er markiert, dass er sich einer Vorlage verdankt, der, so ist präsupponiert, Seite für Seite gefolgt wird. Durch diesen Verweis wird die Autorschaft Storms aufgerufen, zudem wird dadurch implizit unterstellt, dass die im Folgenden vorgeführten filmischen Strukturen eben keine genuinen Filmstrukturen sind, sondern quasi nur die mediale Umsetzung des schriftlichen, gedruckten Textes. Storm wird also als Autorität wie Beglaubigung funktionalisiert. Schließlich ›verhindert‹ auch ein Parameter der Darstellungsweise, dass sich die Frage einer Adäquatheit überhaupt stellt.23 Ein filmisches Mittel drängt sich als dieses Mittel derart in den Vordergrund, dass genau diese Dimension der medialen Umsetzung betont wird. Der Film stellt deutlich heraus, dass es sich um einen Farbfilm handelt: Der Film ist bunt und er stellt diese Buntheit opulent aus. Fokussiert ist die Zurschaustellung der medial-technischen Errungenschaft des Farbfilms,24 wodurch Aspekte von Modernität und technischem Know-how dem Film eingeschrieben werden. Zelebriert werden eigene Leistungsstärke und Fortschrittlichkeit. Die technische Errungenschaft als Film spiegelt sich dann im Film homolog in der Diegese wider, wenn gerade solche Aspekte bei Paul und seiner Arbeit betont werden. Dieser ist nicht einfach Handwerksmeister, sondern betreibt eine »Mechanische Werkstatt« (1:24:10), wie am Filmende verdeutlicht wird. Evelyn Viehoff-Kamper und Reinhold Viehoff haben bereits dargelegt, dass die primäre Funktion der Änderung auf der Ebene der Erzählsituation ist, die Erwachsenenwelt ins Zentrum zu rücken. Allerdings ist ihre Folgerung, dass damit der Film notwendig als gesellschaftskritisch zu lesen wäre, zu pauschal und sie lässt sich aus den Filmstrukturen insgesamt nicht als gültig für die dargestellte Welt erweisen.25 Hier gilt es zu differenzieren und Einzelbefunde in ihren narrativen Kontext zu situieren: Denn 22 Dieser Text ist zwar von Storm, es ist aber nicht Pole Poppenspäler. Zu sehen ist ein Ausschnitt aus Eekenhof. 23 Zur Problematik von Adäquatheit vgl. einführend Krah/Nies 2017 (wie Anm. 1), S. 383. 24 Diese Farbigkeit ist für die 1950er Jahre durchaus keine Selbstverständlichkeit; sie erinnert etwas an die ersten deutschen Farbfilme; vgl. hierzu Hans Krah: Technik, Farbe, Wirklichkeit. Der Diskurs um Farbe und die deutschen Farbfilme 1941–45. In: Die Medien und ihre Technik. Theorien – Modelle – Geschichte. Hrsg. v. Harro Segeberg. Marburg 2004, S. 286–302. 25 So sprechen Viehoff-Kamper/Viehoff 1999 (wie Anm. 4), S. 365, dem Film eine »sozialkritische Attitüde« zu. Dies ist so nicht haltbar. 76

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zum einen ist eine Welt inszeniert, die harmonisch funktionieren kann, wenn man nur daran glaubt, wie dies (der erwachsene) Paul von vornherein und ohne Zweifel tut und wie dies am Ende auch vorführt wird: Man zieht den Hut vor Paul und Lisei, die letztlich auch aufgrund ihres Fleißes und ihrer modernen Einstellung anerkannt sind. Auch die neu hinzugefügte Szene, bei der Paul in einer Kommode Wolle und Stricksachen für Babykleidung entdeckt, ein Zeichen für die bereits eingetretene oder als sicher erwartete Schwangerschaft, signalisiert diese Ausrichtung auf die Zukunft und die Vorwegnahme eines zu erreichenden glücklichen Zustands. Auch die Buntheit an sich kann als Zeichen dieses Optimismus gedeutet werden. Zudem ist zum anderen eine solche Kritik an die Genderordnung gebunden. So sehr Paul in sich ruhend, dauerhaft lächelnd und Optimismus verbreitend inszeniert ist, so erhält demgegenüber Lisei einen eigenen Fokus und wird Trägerin des Sujets. Sie ist es, die sich integrieren muss und will, sie weiß um ihre Abweichung und will diesen Makel tilgen. Im Film werden gerade diese Bemühungen Liseis um Integration Gegenstand des Discours. Sie lädt die Honoratiorengattinnen zum Kaffeekränzchen, diese erscheinen aber nicht, da Vater Tendler seine Aufführung in der Zeitung annonciert. Sie tut sich schwer, sie wird beim Einkaufen geschnitten, vorgeführt wird aber, dass sie in keiner Weise semantisch abweichend ist, sondern fast bürgerlicher als die Bürgerlichen (und damit ist präsupponiert, dass die Integration schlussendlich auch vollzogen wird). Ihre Herkunft gilt ihr weniger als gesellschaftliche Anerkennung. Dieses bürgerliche Verhalten bzw. das Bürgerliche an sich wird aber (in dieser DDR-Verfilmung) in keiner Weise kritisiert. Es gilt als Modell, wie Zusammenleben funktionieren soll. Die ›asozialen‹ Schmidts sind als ›Proleten‹ deutlich am Rande der Gesellschaft, ihr Verhalten wird nicht geduldet oder gilt gar als vorbildhaft; stattdessen ist unterstellt, dass dies das Gemeinwohl stört. Der Dünkel einer bürgerlichen Gesellschaft, die durch ihre Vorurteile eine soziale Integration erschwert, wird zwar in gewisser Weise angeprangert, aber gewollt ist keine Veränderung der Gesellschaft, sondern eine in sich funktionierende, in der jeder seinen Platz hat. Und das Ende bestätigt, dass dem so ist. Mit einer positiven Welteinstellung, wie sie der ständig lächelnde Paul als Leitbild des neuen Menschen repräsentiert, lösen sich diese Konflikte fast wie von selbst. Propagiert wird ein harmonisches Miteinander, das schlussendlich auch, ohne besonderes Zutun, erreicht wird. Hier artikuliert sich ein gewisses utopisches Moment des frühen Sozialismus bzw. wird ein solches programmatisch postuliert. Der Tod Tendlers kann da problemlos in Kauf genommen werden, führt der Kommentar des Pastors zum ins Grab geworfenen Kasper − der im Film nicht mehr wie im Text auf dem Friedhof geäußert wird, sondern säkularisiert in die Mitte der 77

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bürgerlichen Welt, auf den Stadtplatz, verlegt ist − dazu, dass sich alles zum Guten wendet. Das Hutziehen der Herren der Gesellschaft dokumentiert dies hinreichend. Denn vorgeführt ist, trotz einer oberflächlich inszenierten Relevanz der Frauen, eine Männerwelt. Innerhalb dieser sind es die Frauen, an denen einerseits Problematiken verhandelt werden bzw. bei denen sich solche Konflikte ergeben. Es sind aber andererseits auch die Frauen, die als Norminstanzen für die Vermittlung von Werten und Normen zuständig sind. So ist es Mutter Schmidt, die zwar ebenso wie die anderen Lisei schneidet, die aber als moralische Instanz und Autorität in ihrem Rahmen ein natürliches Gespür für das Richtige hat. Sie anerkennt die Leistungen von Paul und deutet entsprechende abfällige Äußerungen ihres Mannes als Neid auf dessen Erfolg; sie ist es, die die Schlechtigkeit der ihrigen erkennt und sanktioniert: Wenn sie ihren Söhnen eine Ohrfeige verpasst, ohne dass sie gesehen hätte, dass diese den Kasper ins Grab werfen, wird deutlich, dass deren Verhalten prinzipiell nicht zu billigen ist. In diesem Gender-Kontext ist dann auch die auffällige Relevanz und Inszenierung von Kröpel-Lieschen zu sehen, die prominent in Szene gesetzt ist. Sie wird bereits zu Beginn der Rückkehr eingeführt und bleibt bis zum Ende im Fokus. Inszeniert ist sie von vornherein als tragikomische Figur, was bereits durch ihr auffälliges Äußeres, Aussehen wie Kleidung, angelegt ist. Charakterisiert wird sie insbesondere durch ihre Rezitation des Monologs von Lady Macbeth als ungefragte Probe ihres schauspielerischen Vermögens, wodurch sehr explizit ein generelles Problem ihrerseits mit dem aptum vorgeführt wird. Mit diesem Bruch in der Person der Kröpel-Lieschen ist dann das Scheitern der Aufführung letztlich vorgezeichnet und vorweggenommen; es wird ihr angelastet, damit aber in seinem Ereigniswert auch kanalisiert. Kröpel-Lieschen erscheint als Inkarnation eines Moments des Missgeschicks, das dazugehört. Mit Lieschen wird die Offenheit der Gesellschaft auch für das ›Schräge‹ symbolisiert, das als diese Abweichung allerdings auch nur toleriert wird, wenn es sich dieser Abweichung selbst bewusst ist und die Selbststigmatisierung perpetuiert (wie die Ersteigerung gerade der Marionette Susanna durch Kröpel-Lieschen zeigt). In gewisser Weise (und vielleicht etwas überinterpretiert) biedert sich die DDR in der inszenierten Übernahme einer Stormschen Welt des Biedermeier (einer Welt, die weniger auf Storm, sondern auf Stormexegeten fußt) einem Weltentwurf an, der als letztlich heiler erscheint, als Vorbild für den Aufbau einer eigenen Welt dienen soll und dabei kaschiert, dass die sozialen Realitäten (ganz) andere sind. Abgesehen von der spezifischen Fokussierung der Frauen erinnern im Übrigen einige der dem Film zugrundeliegenden Konstellationen an Elemente, die auch den NS-Film auszeichneten (der Umgang mit Farbe, die 78

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Inszenierung von Modernität, der penetrante männliche Optimismus, die Frau als Problem wie Norminstanz).26 Die DDR-Filmproduktion scheint einen anderen Umgang mit solchen Kontinuitäten zu pflegen als vergleichsweise die westdeutsche. Pole 1968: Ideologisierung und ›ordentliche‹ Kunst Die BRD-Verfilmung27 von 1968 zeichnet sich vordergründig dadurch aus, dass Tendler zum Protagonisten aufgewertet und damit dem Film auch eine Kunstthematik inhärent ist.28 Diese Zentrierung auf Tendler wird bereits durch die Besetzung mit Walter Richter installiert, da dadurch die Figur Statur und körperliche Präsenz erhält; sie zeigt sich auch durch die häufigen Großaufnahmen seines Gesichts, gerade gegen Ende des Films. Tendler avanciert zu einer tragischen Figur, vorgeführt wird das Scheitern einer bestimmten Lebenseinstellung; dies wird im Film konstatiert, aber nicht weiter bewertet. Welcher Art Kunstdiskurs aber geführt wird, gilt es zu spezifizieren, zumal dieser Kunstdiskurs mit dem Propagieren einer bürgerlichen Ordnung, um das es im Film eigentlich geht, zusammenhängt und darin zu integrieren ist. So gilt zunächst für das vorgeführte Künstlertum Tendlers, dass eine Art Symbiose zwischen Puppenspieler und Puppen propagiert wird. Aussagen wie »Die Puppe hat eine Seele« (04:34), »Wenn es nachts ist, darf man die Puppen nicht stören […] Richtig leben tun sie erst, wenn sie allein und für sich sind […] Nachts tanzen sie« (49:47–50:06), verdeutlichen dabei zudem, dass den Puppen ein eigenes Leben und damit dem Medium eine eigene Aura zugesprochen wird. Diese symbiotische Beziehung zu den Puppen, insbesondere zur Kasperfigur, die zum Zeichen für den Lebensentwurf Tendlers aufgewertet wird, erlaubt dann auch, den biologischen Tod Tendlers im Film auszublenden, da sich dieser bereits symbolisch in der Selbsterkenntnis Tendlers, »Kasper ist tot« (1:30:00), vollzieht. Die Tragik Tendlers resultiert daraus, dass er als Künstler gesehen werden will, wobei er selbst einen bestimmten Kunstbegriff zugrunde legt. Wenn Tendler davon spricht, dass es in der Stadt ein »kunstsinniges Publi26 Im ewig lächelnden, souverän agierenden Paul artikuliert sich der NS-Typus des ›naiven‹ Helden. Auch die Instrumentalisierung Storms am Filmbeginn findet sich bereits in Harlans Immensee (1942) und Oertels Schimmelreiter (1933/34). 27 Pole Poppenspäler. BRD 1968. Regie: Günther Anders. UA 24. 12. 1968 im ZDF. Timecode nach der DVD-Fassung MORE Brands and Products GmbH & Co.KG. Lizenz durch: ZDF Enterprises GmbH. ZDFE 2010. 28 Vgl. etwa Viehoff-Kamper/Viehoff 1999 (wie Anm. 4), S. 374, die diese Künstlerthematik als zentral setzen. 79

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kum« (25:15) gibt, dann artikuliert sich darin eine bestimmte Vorstellung von Kunst, nämlich die einer bildungsbürgerlich anerkannten Höhenkammkunst, mit der die Vorstellung eines bestimmten Konzepts des Künstlers einhergeht. Hierzu gehört eine gewisse Singularisierung – es kann nur einen geben. Gerade im Verhältnis zu Kröpel-Lieschen zeigt sich dies, denn Tendler geht gerade keine Komplizenschaft mit ihr ein, sondern distanziert sich eher von ihr. Hier zeigt sich auch bzw. bestätigt sich, was zuvor schon anhand von Frau Tendler präsupponiert war, nämlich dass dieses Künstlertum rein männlich gedacht ist. Aufgerufen werden zudem Konzepte wie Authentizität und Berufung: Der Künstler ist einer, der seine Kunst lebt (und eben nicht von ihr lebt, sie also nicht primär aus professionellen Gründen ausübt). Die bürgerliche Ordnung exkludiert nun scheinbar oberflächlich das Puppenspiel und damit den Künstler. So interpretiert Tendler die Sesshaftigkeit automatisch damit, nicht mehr auftreten zu dürfen, so sind die Puppen nicht zu Hause (im Haus Pauls) untergebracht, sondern werden auf dem Dachboden der Schneiderherberge abgestellt und ausgelagert. Allerdings scheint dies alles nichts Sujethaftes zu sein, sondern zum Konzept dazuzugehören, so wie die inszenierte Individualisierung und letztlich auch die Tragik Tendlers, wird doch das Bild des Künstlers als solitäre Existenz vermittelt, die scheitert und sich gerade dadurch erst als Künstler be-/erweist. Daraus kann die Ordnung auf symbolische Weise Kapital schlagen, zumal dieses Künstlertum in keiner Weise die vorgeführte bürgerliche Ordnung relativiert oder hinterfragt. Es lässt sich stattdessen in gewisser Weise als aktantielle Konkretisierung einer Heterotopie verstehen:29 Durch diese Zulassung des Anderen kann das Eigene stabilisiert werden. Das, was hier als Kunst verstanden wird, ist also nichts wesentlich Anderes, nichts Fremdes. Diese Kunst ist nur anderer Ausdruck des Eigenen und spiegelt dessen Werte und Normen wider. Sie ist integraler Bestandteil der Ordnung, ist weder subversiv noch avantgardistisch oder verstörend. Sie erweist sich als ›bürgerlich brauchbar‹ und sie ist, vor der Folie bürgerlichen Denkens, zu verstehen. Diese Vereinnahmung spiegelt sich gerade in den vorgeführten Puppenspiel-Aufführungen wider. Diese nehmen im Discours einen beträchtlichen Anteil ein. Die Kindheitsepisode hat etwa die Länge von einer Stunde, davon sind allein über elf Minuten für die Aufführung der Genovefa reserviert und sogar zwölfeinhalb Minuten für den Faust (wobei hier dann auch die 29 Begriff nach Foucault, verstanden im Sinne eines Raumes, der zwar eine abweichende ›Ordnung‹ aufweist, aber mit dieser ›anderen‹ Ordnung gerade in kompensatorischer Funktion zur eigentlichen Ordnung steht. 80

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Wiedergabe des Stücks mit dem Geschehen um den kaputten Kasper alterniert). Bei beiden Aufführungen werden Anfang und Ende gezeigt, beide sind in vier Aufzüge untergliedert, die als diese Einschnitte auch präsentiert werden, so dass der Fortgang des Stückes signalisiert wird. Ausgewählt für die Visualisierung sind genau solche Teile, durch die der Gesamtinhalt komprimiert wiedergegeben werden kann; die Handlungen sowohl von Faust als auch von Genovefa können anhand der vorgeführten Ausschnitte und Dialoge nachvollzogen werden, so dass die konkret vorgeführten Teile immer auch durch diesen narrativen Rahmen in ihrem funktionalen Zusammenhang und ihrer ideologischen Relevanz interpretiert werden können: Die Intrige von Golo hat nicht auf Dauer Bestand, Genovefa wird schlussendlich für ihre Treue belohnt, Faust muss für sein frevlerisches Erkenntnisstreben und seine Abkehr vom Himmel in die Hölle. Die Aufführungen dienen geradezu dazu, Werte und Normen (einer bürgerlichen Welt) zu vermitteln, sie haben didaktische und erzieherische Funktion.30 Was sich hier abzeichnet, ist eine Art Nobilitierung des Puppentheaters. Einer medialen Eigendynamik wird es beraubt und stattdessen als Träger der vorgeführten Geschichten und deren Botschaften in Dienst genommen; das Potential des Dispositivs Puppenspiel, das über eine solche narrative Einbindung hinausgeht, wird zurückgefahren und gerade nicht genutzt: Das Medium Puppenspiel wird filmisch formatiert. In diesem Kontext ist die Augsburger Puppenkiste zu nennen, die mit ihren Konzepten den (populär-)kulturellen Wissenshorizont ›Puppenspiel‹ der Zeit prägt. Gerade auch die Filmmusik evoziert diesen Bezug, da sie sehr deutlich die musikalische Untermalung der Puppenkiste zitiert. Diese Nobilitierung zeigt sich bereits auf der sprachlichen Ebene. Genovefas Ausspruch: »wenn dich die grausamen Heiden nur nicht massakrieren!« (LL 2, 174) wird nicht wortwörtlich übernommen (sondern ersetzt durch »mein teurer Gemahl, mich überfällt namenlose Angst« – 12:52), da die Bedeutung von ›massakrieren‹ in den 1960er Jahren mit eher umgangssprachlichen Konnotationen einhergeht und damit einen ironischen Bruch forcieren könnte (der die Ernsthaftigkeit des Geschehens konterkarieren würde). Gerade einer solchen Belustigung dienen diese Aufführungen aber nicht, selbst nicht durch die Kasperfigur. Diese nimmt nicht mehr eine karnevaleske Rolle ein oder konterkariert die Ernsthaftigkeit der Stücke durch Slapstickeinlagen, sondern sie spielt mit. Sie ist als Handlungsträger inte30 Der von Frau Tendler vorgebrachte Vorwurf, dass es sich beim Faust um ein »gotteslästerliches Stück« (48:33) handle, ist zwar wörtlich aus dem Text übernommen (LL 2, 186), wirkt angesichts des moralischen Rahmens und der gesamten Puppenspielinszenierung im Film doch sehr unpassend. 81

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griert, reflektiert selbst im Nachhinein eigene Handlungen, die der moralischen Ordnung zuwiderlaufen, als Dummheiten und ist bemüht, sie zu revidieren. Der Kasper, dies zeigt gerade die Genovefa-Aufführung, wird zum braven Gesellen. Sosehr die Faszination durch das Puppenspiel als Gefahr gesetzt wird, für dieses Puppenspiel darf Faszination sein, denn diese Art Puppenspiel kann problemlos für die Ordnung funktionalisiert werden. Beide Stücke sind absolut ›jugendfrei‹. So bunt und anders die Puppen scheinen mögen – was vorgeführt wird, bestätigt die bürgerliche Ordnung und lenkt nicht wirklich von ihr ab. Diese Kunstkonzeption ist also nicht gefährlich für die bürgerliche Ordnung, die in ihrer Semantik durch den Film näher gebracht werden soll (und dazu dienen insbesondere die vielen kleinen Änderungen zur textuellen Vorlage). Die Dauer der Kindheitsepisode, die über Zweidrittel des Filmes ausmacht, ist weniger im Sinne einer Entwicklungsgeschichte von Paul zu sehen, sondern funktional für das Vorführen von und Einüben in Paradigmen; akzentuiert sind dabei das Eltern-Kind-Verhältnis und Erziehungsprinzipien. Zu den Spielregeln dieser bürgerlichen Ordnung, die als ein Abbild der BRD-Gesellschaft in den späten 1960er Jahren zu lesen ist, gehört ihre ökonomisch-kapitalistische Ausrichtung: So kosten die Stofffetzen etwas und sind nicht umsonst zu haben (hier gibt es dann auch keine echten familiären Beziehungen mehr, insofern »Onkel Gabriel«, wie es heißt, nur als Onkel bezeichnet wird, aber keiner ist – 07:27), so muss Paul etwas leisten, um sich den Doppelschilling für die zweite Vorstellung zu verdienen, wobei sein seinem Vater mit Hintergedanken offeriertes »Kann ich dir helfen?« (27:53) darauf verweist, dass dieser Umgang eingeübt ist und den üblichen darstellt. Ohne Fleiß kein Preis. Insgesamt ist die Kindheit sehr deutlich durch das Einhalten von Regeln, deren Verletzung und die väterliche Reaktion darauf gekennzeichnet (so wird der Text dahingehend geändert, dass Paul für die erste Vorstellung eine Zeitvorgabe erhält, diese nicht einhält und zu spät nach Hause kommt, was dann, wenn auch nicht wirklich sanktioniert, zumindest thematisiert wird), wobei Kulminationspunkt die Schule ist. Das alltägliche Leben der jungen Generation ist durch die Betonung von Schule und Schulaufgaben geprägt, alles dreht sich darum; auch die Beziehung zu Lisei ist hier nicht ausgenommen, Lisei hilft Paul beim Lernen, Nützlichkeit wird propagiert. Diese Ordnung konstituiert sich wesentlich durch ein bestimmtes Geschlechterverhältnis, durch eine spezifische Rolle der Frau als Hausfrau und die uneingeschränkte Autorität des Vaters. Diese Autorität bleibt unangetastet. Da dürfen auch Vorurteile und Ansichten geäußert werden, die pauschal und undifferenziert sind, so etwa, dass Künstler Hungerleider sind 82

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und Kunst Firlefanz ist, wenn sie dann nicht die Grundlage des Handelns bildet. Die Strenge, die nie ungerecht erscheint oder überhaupt angezweifelt wird, legitimiert sich, da die Handlungen des Vaters nicht despotisch, sondern letztlich in einer Art aufgeklärtem Absolutismus immer zum Wohle aller sind. Wenn Mutter Paulsen, deren auffälliges Kleidungstück, eine (an das Ohnsorg-Theater erinnernde) Schürze, als Zeichen fungiert, prominent in Szene gesetzt ist, dann genau in der Rolle der fürsorglichen Mutter und Hausfrau, die insbesondere um ihren Platz in der Familie weiß. Wenn sie sich einmischt und ihren Mann bewegen will, Paul den Besuch der Vorstellung zu erlauben – und dabei, in der Art, wie sie es macht, verdeutlicht wird, dass letztlich der Vater im Haus das alleinige Sagen hat –, dann erscheint dies positiv nur, da zum einen die Gründe im Erhalt bzw. in der Festigung der bildungsbürgerlichen Ordnung liegen: Argumentiert wird, dass Paul den Faust in der Schule lesen wird und daher der Besuch der Faust-Aufführung nützlich hierfür sein könnte. Zum anderen erweist sich, dass Vater Paulsen dies selbst schon so arrangiert hat, ohne sich zuvor mit seiner Frau zu beratschlagen, so dass statt eines Konfliktpotentials ein Grund gegeben ist, dass Mutter Paulsen ihren Mann für seine Weit- und Umsicht bewundern kann.31 Gerade hier liegt nun das Problem bei den Tendlers und hier wird die Problematik der Kunstkonzeption enggeführt mit einer Abweichung bezüglich der Geschlechterrollen. Die skizzierte bürgerliche Ordnung ist als Maßstab allgemein anerkannt und Vorbild, dies wird gerade anhand Frau Tendlers vorgeführt. Die neu hinzugefügte Sequenz zu Beginn des Films, wenn sich die Tendlers in der Schneiderherberge einrichten, dient gerade dazu, diese Einstellung zu dokumentieren. Hier geht es um häusliche Ordnung, die Betten müssen ausgeschüttet werden, um Sauberkeit und Reinlichkeit, Lisei hat sich zu waschen und die Haare zu bürsten, um Sparsamkeit; all dies wird als Tugenden gesetzt, die Frau Tendler verinnerlicht hat und programmatisch vertritt. Die Problemlage ergibt sich also nicht dadurch, dass andere Werte vertreten werden würden, sondern dadurch, dass die Rollenverteilung nicht ein31 Dass dieses Familienmodell eher auf die 1960er Jahre rekurriert und weniger auf tatsächlich historische Gegebenheiten, zeigt sich en detail darin, dass das Mittagessen dann auf den Tisch kommt, wenn, wie visuell gezeigt, der Vater von der (Büro-)Arbeit nach Hause kommt; für einen Drechslermeister, der zuhause seine Werkstatt hat, erscheint dies eher ungewöhnlich. Wenn Hiebel 1999 (wie Anm. 4), S. 346, im Übrigen behauptet, dass wir es hier mit einer »herrischen und zänkischen Mutter Paulsen« zu tun haben, dann trifft dies auf keine Weise zu. Vermutlich handelt es sich um einen Fehler und Frau Tendler ist gemeint. Aber auch hier trifft diese Charakterisierung nicht tatsächlich zu und wird der eigentlichen Semantisierung nicht gerecht. 83

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gehalten ist. Zum einen ist Frau Tendler dominant und zum anderen Tendler selbst keine Autorität.32 Damit erfüllt Tendler seine Rolle als Familienoberhaupt nicht. Tendler hat für alles Verständnis – lebt also, gemessen an den Spielregeln der vorgeführten Ordnung, in einer anderen Welt.33 Schließlich propagiert der Film eine gewisse Rationalität als Leitlinie, durch die sich, zumindest für die Männer, die Lösung von Problemen einstellt. Dies zeigt sich durch die veränderten Modalitäten bei der Aufdeckung des Diebstahls, bei der Paul die Rolle eines Ermittlers einnimmt. Anstatt, dass sich dies von selbst aufklärt, wie im Text, muss von Seiten Pauls Detektionsarbeit betrieben werden, müssen systematisch die richtigen Fragen gestellt werden, um aus der verstörten Lisei eine brauchbare Zeugin zu machen und durch ihre Aussagen den tatsächlichen Verbrecher erkennungsdienstlich dingfest zu machen. Nicht nur erscheint das etwas ›einfach‹ (wie schön, dass der Dieb physiognomisch durch eine Narbe auf der Stirn gekennzeichnet ist), hier artikuliert sich auch ein eher naiver Glaube an das Funktionieren der Institutionen. Man muss nur selbst etwas beitragen, dann auch kann innerhalb der Ordnung etwas erreicht werden. Dass dieses Weltmodell in einem Film von 1968 propagiert wird, mag nur auf den ersten Blick irritieren.34 Versucht wird, ein bestimmtes Familienbild aufrechtzuerhalten, das als repräsentativ für einen bestimmten Zustand der Gesellschaft gesetzt ist, und das umso mehr verteidigt und als (nach wie vor) funktionsfähig und harmonisch herausgestellt werden muss, desto mehr es kulturell thematisch wird. Die durchaus konservative Grundeinstellung, die dem Film zugrunde liegt, ist gerade als Reaktion auf einen als bedrohlich wahrgenommenen möglichen Wandel zu sehen.35 Deshalb muss diese Einstellung also wie selbstverständlich als anthropologisch uni32 Dies zeigt sich gleich zu Beginn, wenn in Abweichung vom Text die Schneiderherberge nicht gegenüber von Pauls Zuhause ist, sondern in die nächste Gasse verlegt wird und damit die Situation des Falsch-Abbiegens konstruiert und für die Charakterisierung der Figuren funktionalisiert wird. Frau Tendler hätte die richtige Orientierung gehabt, erscheint aber als rechthaberisch, da sie ihren Mann kritisiert (»hab’ ich es dir nicht gesagt« – 01:30). Nicht, dass sie recht hat, sondern, dass er nicht recht hat und sie dies thematisiert, ist das Problem. 33 Dass trotz dieser konkreten Abweichung die Welt an sich eine männlich dominierte ist und Dominanz ideologisch dem Manne zukommt, wird auf der sujetlosen Schicht vorgeführt, wenn es (in Abweichung vom Text) allein die Väter sind, die die Kinder in der Kiste finden, ohne Beisein von Frau Tendler. 34 So Viehoff-Kamper/Viehoff 1999 (wie Anm. 4), S. 352, die ihrer Verblüffung Ausdruck verleihen, dass gerade in einem Jahr wie 1968 ein solcher Film gedreht wurde. 35 Siehe hierzu grundlegend demnächst Dennis Gräf in seiner Habilitationsschrift Ordnung und Angriff. Anthropologische und ideologische Konstruktionen in Literatur und Film der 1960er Jahre. 84

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versell und damit unantastbar gesetzt werden, eben auch bei den Tendlers und eben auch für die nächste Generation. Hier wird anhand der erwachsenen Lisei die Perpetuierung dieses Denkens ›subtil‹ vorgeführt, wenn sie das gleiche Schürzenmodell wie Mutter Paulsen trägt. Pole 1989 – Profanisierung und mediale Projektion Die 1989-Verfilmung36 zeichnet das Bemühen um eine ›originale‹ Textversion aus, der Film geriert sich als reiner Träger und Mittler des Stormschen Werkes. Damit scheint auch die Semantik des Textes übernommen zu sein. So ist, was im Film gesprochen wird, (mit kleinen Änderungen) wörtlich übernommen, neuen Text gibt es nur bei der Puppenspielaufführung des Faust, bei der in Knittelversen gereimte Passagen hinzukommen. ViehoffKamper/Viehoff 1999 gehen so weit zu postulieren, der Film »versucht den Erzählton der Vorlage möglichst authentisch filmisch umzusetzen«.37 Sie stützen sich dabei auch und vor allem auf die Umsetzung der Erzählsituation, für die sie eine adäquate Transposition erkennen. Dem ist nicht unbedingt zuzustimmen. Weder der Erzählton noch die semantische Gesamtaussage orientieren sich tatsächlich am Text. Durch die konkrete Umsetzung verschieben sich bei oberflächlicher Ähnlichkeit die Gewichtungen einzelner Elemente deutlich,38 dies bedingt ebensolche Änderungen, wie sie auch bei den drei übrigen Adaptionen zu konstatieren waren (wenngleich dies hier aus anderen Parametern resultiert). So wird zwar die Erzählsituation zu imitieren versucht, wenn der alte Paul Paulsen zu sehen ist, wie er auf der Bank am Tisch vor dem Haus sitzt und seine Geschichte erzählt und damit die Rahmenebene2 aufgerufen wird.39 Diese Übernahme kaschiert aber in ihrer auffälligen Inszenierung (siehe unten) gleichzeitig, dass damit nicht die tatsächliche Erzählsituation des Textes abgebildet wird. Denn auf den Rahmen1, die Verschriftung der 36 Pole Poppenspäler. BRD 1989 (Bayerischer Rundfunk). Regie: Guy Kubli. UA 25. 12. 1989 in der ARD. Gesichtet wurde die freundlicherweise vom Storm-Archiv überlassene Fassung. 37 Viehoff-Kamper/Viehoff 1999 (wie Anm. 4), S. 374; demgegenüber vertritt Hiebel 1999 (wie Anm. 4), S: 340f., die gegenteilige Position, der grundsätzlich zuzustimmen ist, wenngleich sie dann wieder pauschalisierend für Kontexte funktionalisiert wird, die nicht zwingend sind. 38 Anzumerken ist, dass sich gerade an dieser Verfilmung sehr schön die methodischen Prämissen illustrieren und am Beispiel herleiten ließen (vgl. Anm. 7). Denn über diesen auf der Oberfläche sehr engen Bezug zur Vorlage kann deutlich gezeigt werden, dass der Film als anderes Medium die rein schriftlich inszenierte Modellierung seiner Welt auch bei oberflächlicher Übernahme transformieren muss, und dass dann daraus auch ein anderes Bedeutungspotentials resultiert. Gerade durch eine oberflächliche Ähnlichkeit/Übernahme lassen sich die medialen Differenzen erkennen. 85

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mündlichen Erzählung durch den namenlosen, aber nicht merkmalslosen Erzähler und dessen Reflexionen, wird vollständig verzichtet (dementsprechend gibt es textuelle Kürzungen gerade hinsichtlich der ersten drei Seiten). Damit fehlt die Motivation für die Erzählung von Paulsen, die im Text erst katalysiert wird durch die Frage nach der Bedeutung der (titelgebenden) Bezeichnung ›Pole Poppenspäler‹. Insofern diese besonderen Umstände fehlen, in die die (Binnen-)Erzählung im Text eingebettet ist (auch, dass es der Hochzeitstag ist, an dem erzählt wird, fehlt), wird die Erzählung profan: Sie mutiert zu einer alltäglichen, wenig besonderen Geschichte an einem (x-)beliebigen Kaffeetisch (zumal auch inhaltlich der Ereigniswert reduziert ist, siehe unten).40 Dass auf der Rahmenebene2 im Text Paul Paulsen dem Rahmen-Ich1 seine Geschichte erzählt, wird dadurch zu substituieren versucht, dass Paulsen direkt in die Kamera spricht.41 Durch diese direkte Ansprache in die Kamera wird ein neuer Adressat installiert, der Ich-Erzähler wird durch ein anonymes Adressatenkollektiv ersetzt, Adressat ist jetzt jeder, die Geschichte wird allen erzählt. Sosehr damit der Zuschauer einbezogen wird, so wird er dies aber nur auf dieser Erzählebene (und natürlich hier auch nur simuliert, da die direkte Ansprache eine solche mündliche Face to Face-Situation nur medial imitiert). Vor allem aber bewirkt diese Konstellation, dass der Zuschauer vom eigentlich erzählten Geschehen distanziert wird, da der Zugang zu diesem Geschehen an die Erzählinstanz gebunden ist. Diese schiebt sich als Zwischenebene, die für Distanz sorgt, ein, bleibt durch ihre permanente Präsenz in Erinnerung und bindet so das vorgeführte Geschehen an sich. Rekurrent wird visuell der erzählende Paul gezeigt. Denn diese Einstellung durchzieht den gesamten Film und konstituiert/definiert ihn letztlich. Ziemlich genau ein Viertel der Filmlänge kommt den einundzwanzig Einschüben insgesamt zu, in denen Paulsen in immer gleicher Pose am Kaffeetisch sitzend und in die Kamera sprechend gezeigt wird.42 Damit dominiert 39 Die Bank vor dem Haus ist im Text zwar prominent erwähnt, die Situation ist so im Text aber nicht mehr gegeben, da zum Zeitpunkt des gealterten Paul die Bank nicht mehr vor dem Haus steht. Erzählt wird zunächst »auf der Bank unter der großen Linde seines Gärtchens« (LL 2, 164) und dann auf einem Spazierweg außerhalb des Gartens (LL 2, 209). 40 Bei den anderen Verfilmungen fehlt dieser Rahmen auch, aber dort wird dieses Fehlen durch die semantischen Abweichungen vom Text aufgefangen, die für neue Grenzziehungen und damit etwas Erzählenswertes sorgen. 41 Dieses Durchbrechen der vierten Wand stellt im Fernsehkontext nichts unbedingt Außergewöhnliches dar und ist in bestimmten Formaten konventionalisiert. 42 Zumeist haben diese Einschübe eine Länge von etwa 30 Sekunden, einige wenige weisen eine Länge von einer bis zwei Minuten auf; verteilt sind sie über den gesamten 86

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diese Ebene eindeutig die der erzählten Geschichte (was im Text so nicht gegeben ist), so dass es eine paradigmatische Verschiebung von der erzählten Geschichte hin zum Erzählakt gibt. Der Film führt keine Geschichte vor, sondern ›handelt‹ von einem Erzähler. Dies korreliert damit, dass diese erzählte Handlung wenig dramaturgisch ausgestaltet ist. Die filmische Umsetzung zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass die Räume, bei denen es sich zumeist um Innenräume handelt, kulissenhaft erscheinen, und dass überhaupt wenig Personen visualisiert sind; diese Bilder vermitteln weniger den Eindruck einer ›echten‹ Welt als dass sie dem Vorführen eines Kammerspiels dienen (was durch den historisierenden Charakter noch verstärkt wird). Eine Nähe zu den Figuren kommt nicht auf, Anteilnahme ergibt sich nicht von selbst, sondern wird nur sprachlich durch den Erzähler vermittelt. Denn auch wenn dieser nicht visuell zu sehen ist, so ist das, was zu sehen ist, überwiegend durch Voice Over an diese Ebene rückgebunden. Die Stimme wird über die Bilder gelegt, so dass das gealterte Erzähler-Ich auditiv präsent bleibt.43 Gemeinsam mit der eben skizzierten Präsentation der Welt bedingt dies, dass Ereignishaftigkeit fast vollständig ausgeblendet ist, dass Grenzüberschreitungen im Sinne einer dramaturgischen Inkorporierung, einer Anteilnahme am Geschehen, nicht stattfinden. Der Zuschauer wird nicht in eine bewegende Geschichte involviert. So ist etwa Kröpel-Lieschen nur sprachlich erwähnt, wird aber nie visuell gezeigt. Zu sehen ist maximal ihr Rock, im Fokus und formatfüllend sind die Puppen Kasper und Susanna (bei der Probe). Auch die missglückte Aufführung wird nicht als Aufführung gezeigt, sondern quasi ›übersprochen‹. Konflikte und Probleme in der Diegese werden durch eine solche Erzähl- und Darstellungsweise relativiert, sie werden es aber bereits dadurch, dass der Film den Text gerade in solchen Textelementen kürzt, die mitverantwortlich für die textuelle Problemkonstellation sind: So ist etwa der gesamte Geschehensstrang um den schwarzen Schmidt und alles, was darüber sprachlich im Text zu erfahren ist, gestrichen. Paul selbst ist im Film damit vollständig ohne jede Anfeindung. Durch die Dominanz der Stimme erhalten die Bilder zudem eher illustrierenden Charakter. In der Art eines Reenactments beglaubigen bzw. unterstützen sie zwar das sprachlich Ausgeführte, besitzen aber keinen von dieser Ebene unabhängigen Eigenwert und insbesondere keine emotionale, Film, wobei sie in der zweiten Hälfte noch etwas häufiger werden und die Längenanteile sich dabei etwa Eindrittel zu Zweidrittel verhalten. Dass erzählt wird, wird also gegen Ende noch bewusster gemacht bzw. bewusst gehalten. 43 Die einzigen längeren Passagen, in denen es kein Voice Over gibt, sind die Gespräche Pauls mit Tendler im Gefängnis und mit Lisei über ihre Zukunft sowie die Beerdigungsszene. 87

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affizierende Qualität. Stattdessen kommt ihnen häufig eine rhetorische Funktion zu. Eine solche zeigt sich etwa deutlich, wenn am Ende von Binnen1 visuell der Karren der Tendlers lang anhaltend gezeigt wird, wie er sich immer weiter in den Bildhintergrund entfernt, während auditiv dem Text weiter gefolgt wird, der Moment der Abreise also schon vergangen ist bzw. von Paul reflektiert wird. Die Bilder werden dadurch ihrer eigenen dargestellten Realität enthoben bzw. symbolisch aufgeladen und dienen nicht mehr primär dem Zeigen des diegetischen Geschehens, die Abreise der Tendlers, sondern argumentativ der Visualisierung und damit Vermittlung des sprachlich-semantisch Formulierten, dem Konzept ›Abschied‹ an sich. Ein filmisches Mitdabeisein in der Welt gibt es also nicht. Die filmische Umsetzung verhindert ein solches Sich-einlassen; bereits der permanente Austritt aus dieser Welt durch die Einblendung des Erzählaktes lässt ein solches Hineinversetzen und damit Faszination nicht aufkommen. In diese Konzeption fügt sich auch das Puppenspiel ein. Auch diese Aufführungen erhalten kein eigenes Gewicht oder fallen durch eine eigene Form der Darstellung auf, in ihnen spiegelt sich vielmehr das Grundprinzip homolog wider: So, wie sich Distanz zum berichteten Geschehen durch die Erzählsituation ergibt, so wird auch Distanz bei den visualisierten Marionettenaufführungen geschaffen, wenn sie frontal von vorne in einer Totalen (und losgelöst von ihrem Aufführungsbezug) gezeigt werden.44 Letztlich ist der Film auf die Porträtierung des Erzählers und seiner Art zu erzählen ausgerichtet. Dies geschieht durch die Visualisierung der Person und ihre Sprechweise. Durch die Transponierung des schriftlichen Textes in den mündlichen kommen durch Faktoren wie Betonung, aber auch Geschwindigkeit und Pausen, Merkmale hinzu, die zum einen der Charakterisierung des Sprechers dienen, zum anderen aber auch Kommentierungen dessen sind, was vermittelt wird. Wenn Paulsen etwa bei dem von ihm Erzählten lacht oder stockt, dann wird der Inhalt dieses Erzählten (und damit der Stormsche Text) mit einer zusätzlichen Semantik aufgeladen. Der propositionale Gehalt des Geschriebenen wird durch diese filminterne Pragmatik beeinflusst und geändert. Dies erfolgt auch durch die Interaktion des Gesprochenen mit anderen Codes, die im audiovisuellen Medium zur Verfügung stehen. Der Text stellt eben nicht (mehr) das Universum der (Film-)Rede dar. Sehr auffällig ist dabei die Gestikulierweise Paulsens. Aus der Grundkonstellation von gefalteten Händen heraus begleitet er sein 44 So wird selbst der erste Auftritt Kaspers, an dem sich ja die Faszination entzündet, nicht visuell gezeigt, sondern nur erzählt. Die Faszination ereignet sich also nicht unmittelbar, sondern ist eine, die nur über den sprachlichen Text vermittelt wird. 88

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Sprechen mit den Händen in weit ausladenden Gesten, die dann immer wieder in die Grundkonstellation zurück münden. So sehr dies das Erzählte unterstützen soll, so lenkt es doch auch, da es visuell das ist, was sich im Bild bewegt, vom Text ab und auf sich. Noch deutlicher als Ablenkung vom gerade erzählten Text fungiert das Hantieren mit der Pfeife. Durch das permanente Säubern und Stopfen, das den Erzählakt begleitet, wird das im Erzählen Erzählte zur Nebensache. Der Effekt ist neben der schon konstatierten Profanisierung auch eine gewisse Banalisierung des Textes. Diese spezifische Fokussierung auf den Erzählakt bedingt auch, dass die in der Erzählung vermittelten Werte und Normen nicht als unmittelbar und damit wesentlich erscheinen, da auch sie an diesen Vorführeffekt gebunden sind. Dies bedeutet aber nicht, dass nicht auch dieser Film durch diese spezifische Adaption und in ihr Paradigmenvermittlung betreiben würde. Für diese ist die Gesamtkonstellation des Films einzubeziehen. So ist deutlich, dass dem Erzählen an sich ein besonderer Stellenwert zukommt, wobei spezifische Aspekte des Erzählens fokussiert sind. Zum einen ist dieses Erzählen an Erzählinstanzen gebunden, die als diese Vermittlungsinstanzen einen Eigenwert erhalten. Zum anderen geht es um Erzählen für alle und damit verbunden auch um Geschichten, die für alle geeignet sind bzw. erscheinen. Der öffentliche Charakter, der durch die Bank vor dem Haus und die Ansprache in die Kamera perpetuiert wird, wird auch durch die den Film rahmende Filmmusik gestützt: Zu hören ist eine durch Holzbläser bestimmte bayerisch-süddeutsche ländliche Tanzmusik, die Jahrmarktsmusik konnotiert, durch den punktierten Einsatz einer dominierenden Klarinette rhythmisiert wird und zum Mitmachen, zur Bewegung animiert.45 Diese Kollektivierung bedingt eine gewisse Glättung von Textstrukturen und letztlich eine Vereinfachung.46 Durch solche Komplexitätsreduzierungen verschieben sich die Bedeutungen, die übernommen sind, da dadurch andere Grenzziehungen präsupponiert sind oder ihnen ihr eigentlicher Kontext fehlt. So kaschiert bereits die narrative und dramaturgische Relativierung des Konfliktpotentials, dass es überhaupt Probleme sind, die verhandelt werden, bzw. sie präsupponiert, dass solche Probleme uns nur vermittelt als Erzählung etwas angehen, also historisch sind und nicht wirklich von gegenwärtiger Relevanz. Wenn am Ende die gealterte Lisei aus dem Haus heraustritt (und semantisch damit in den Raum des Erzählens eintritt), dann wird damit symbolisch genau diese Harmonie des zu45 Im Abspann ist dieser Tanzmusik ein Klarinetten-Intro vorangestellt, der an ein Schlaflied à la Sandmännchen erinnert. 46 Solche Vereinfachungen zeigen sich etwa im Umgang mit dem Dialekt, wenn eben alle Tendlers Dialekt sprechen und nicht nur Lisei. 89

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friedenen Alltags zelebriert (und nicht reflektiert, dass sich darin auch eine spezifische Geschlechterrollensemantik artikuliert, die für das späte 20. Jahrhundert als überholt gelten sollte). Diese Vereinfachung und Kollektivierung unter Ausblenden von Problematiken mag jedenfalls auf die Mentalität und den Zeitgeist der Produktionszeit verweisen. Die spezifische Bindung an Storm ist in einem weiteren Kontext zu sehen. So ist damit zunächst eine selbstreflexive Dimension installiert: Das Medium begreift sich als Verfilmung, wobei dieser Aspekt nicht nur funktional für die eigene Argumentation einbezogen wird (wie dies etwa im 1954er Film der Fall war), sondern implizit das Paradigma Adäquatheit, also der angemessene Umgang mit kulturellem Erbe, mitschwingt. Ein Diskursfeld, dem erst seit den 1980er Jahren kulturelle Bedeutung und damit mediale Relevanz zukommt. Letztlich geht es im Film aber nicht wirklich um Storm. Dass Erzählen an Autoritäten und Erzählinstanzen gebunden ist, ist nur zum Teil durch den Bezug zu Storm realisiert. Diese Anlehnung wird auf sprachlicher Ebene durch die Übernahme weiter Teile des Textes signalisiert und auch die explizite Markierung »Nach Theodor Storm« verweist auf diese Autorschaft. Doch auch Storm muss sich einer anderen Vermittlungsinstanz unterordnen. Denn der gealterte Paul Paulsen wird durch die Besetzung mit Uwe Friedrichsen weniger tatsächlich als Paul Paulsen identifiziert, sondern in dieser Rolle scheint Uwe Friedrichsen selbst durch, als bekannter Schauspieler und (vor allem) als Hörbuchsprecher. Der Film gestaltet sich in einer Art medialer Projektion weniger als ein Film als als eine Lesung, bei der der Hauptakteur der Vortragende ist. Der Zuschauer wohnt einer Lesung bei – und wird so gebildet. Was bleibt, ist Literaturvermittlung als Wert, wobei gerade die Vermittlung als (die eigentliche) Kunst inszeniert ist (und die sich wiederum den medialen Möglichkeiten des Erzählens im Fernsehen verdankt).

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»der modernste aller Poeten« 1 (Th. Storm) Die komplexe Psychologie der Figuren in Hebbels Dramen Marianne Wünsch, Kiel Im Folgenden soll die komplexe Psychologie der Figuren und deren Korrelation mit dem Komplex der Sexualität in Hebbels Judith und Gyges und sein Ring unter Einbeziehung auch anderer Dramen Hebbels behandelt werden.2 In Judith werden – in Transformation der mythischen Erzählung eines apokryphen Bibeltextes – das imperialistische Großreich Assyrien und der nördliche der beiden jüdischen Staaten, Israel, konfrontiert: mit einer auffälligen Asymmetrie, denn während Assyriens König Nebukadnezar als Zentrum der Macht zumindest durch Namensnennung und durch Boten, vor allem aber durch seinen Feldherrn Holofernes repräsentiert wird, ist vom Staat Israel, der ausgelöscht werden wird, und dessen damaligen König niemals die Rede; Israel ist in der dargestellten Welt nur synekdochisch durch eine Kleinstadt namens Bethulien vertreten. Im mythischen Prätext wie in Hebbels Drama wird zwar die Stadt Bethulien gerettet, aber unser Autor und unsere Leser wissen natürlich, daß der Staat Israel von den Assyrern total ausgelöscht werden wird. Die Rettung Bethuliens ist also keine Rettung Israels. Israel selbst ist aus assyrischer Perspektive so bedeutungslos, daß Holofernes noch nie von diesem Staat und seinem Gott gehört hat, bis er sich zur Eroberung Bethuliens entschließt. Trotz dieser asymmetrischen Relation der beiden Räume repräsentieren sie zwei in mehrfacher Hinsicht oppositionelle Systeme. Assyrien ist ein kriegerisches und polytheistisches Großreich, Bethulien eine völlig unheldische monotheistische Kleinstadt, die der Belagerung zu erliegen droht, was ihre ideologischen Repräsentanten auf Normverstöße gegen ihren   1 Storm: Aus der Studienzeit. In: LL 4, 495-504; hier: 503-504.   2 Zu Hebbels Dramen seien für meine Themenstellung und darüber hinaus gehende Komplexe folgende wichtige Beiträge der Forschungsliteratur genannt: Barbara Hindinger: Tragische Helden mit verletzten Seelen. Männerbilder in den Dramen Friedrich Hebbels. München 2004, Herbert Kaiser: Friedrich Hebbel. Geschichtliche Interpretation des dramatischen Werks. München 1983, Claudia Öhlschläger: Unsägliche Lust des Schauerns. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg im Breisgau 1996, S. 86-113, Claudia Pilling: Hebbels Dramen. Frankfurt am Main 1998, Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie. Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels. Tübingen 1989, und vor allem Alexandra Tischel: Tragödie der Geschlechter. Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels. Freiburg im Breisgau 2002, Kap. 2, Kap. 4 und Kap. 5. 91

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Gott Jehova zurückführen; der – auch biblischen – Fiktion nach würde dieser Gott sein angeblich auserwähltes Volk im Falle der Normerfüllung zum Sieg über alle Feinde, im Falle der Normverletzung zur schlimmsten Niederlage führen. So wie nun im System Assyrien der Mann Holofernes das absolut herausragende exzeptionelle Subjekt ist, so ist es im System Bethulien die Frau Judith. »Exzeptionelles Subjekt« ist Holofernes geradezu im Sinne des Sturm und Drang, freilich auch bis an die Grenzen unfreiwilliger Selbstparodie, welche dann Hebbel durch Nestroy in seinem Drama Judith und Holofernes verabreicht wurde. Holofernes wird bei Hebbel zu einem Subjekt von totaler Autonomie stilisiert; er erscheint als gänzlich areligiös und normfrei, er akzeptiert weder moralische noch ideologische Grenzen, kein System der Sinngebung, außer vielleicht dem der Selbstverwirklichung in uneingeschränkt destruktiven Taten. Wenn wir ihn kennenlernen, hat er freilich schon ein Problem: er findet keine Gegner mehr, die zu besiegen sich für ihn lohnen würde, und er ragt so sehr aus der Menge austauschbarer Funktionsträger hervor, daß es nicht einmal einen Gesprächspartner für ihn gibt. Er repräsentiert zwar sein politisches System Assyrien, aber er ist längst darüber hinausgewachsen und gehört ihm eigentlich nicht mehr an. Daß in Bethulien weder der Staat Israel noch auch sein König erwähnt werden, ist insofern funktional, als man sich dort als Theokratie versteht, also der eigentliche Chef, das eigentliche Zentrum sich außerhalb der normalen Realität befindet. Die massive Verhaltensnormierung, die man diesem Gott zuschreibt, die radikale Unterwerfung, die dieser Gott verlangt, führen zur Bedeutungslosigkeit und Entautonomisierung der Untertanen: zu kleinbürgerlicher Engstirnigkeit neben ideologischem Starrsinn. Die einzige Figur, die eine Transformation vollzieht, ist Judith, die sich von dieser Herde abgrenzen und sich über sie erheben wird. Durch ihre anfängliche Gläubigkeit repräsentiert sie zwar das theokratische System, aber sie wächst darüber hinaus und gehört schließlich diesem System ebensowenig an wie Holofernes dem seinen. Wie Holofernes sich nur scheinbar seinem König unterwirft, so unterwirft sich Judith nur scheinbar ihrem Gott. Der komplexe psychische Prozeß, der sich in Judith vollzieht, setzt auf der Basis einer Anomalie ein, durch die sie schon eingangs charakterisiert ist. Sie ist etwas, das es logisch eigentlich nicht geben kann: »unselig bin ich, die ich nicht Jungfrau bin und auch nicht Weib« (18).3 Nicht »Jungfrau« ist sie zwar nur in dem Sinne, daß der Mann, mit dem sie verheiratet wurde,   3 Zitiert wird nach Friedrich Hebbel: Judith. Eine Tragödie in fünf Akten. Stuttgart 1984, die der historisch-kritischen Ausgabe, Besorgt von Richard Maria Werner. Erste Abteilung. Erster Band. Berlin 1901, folgt. 92

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während der kurzen Ehe bis zu seinem Tod, niemals imstande war, mit ihr den Koitus zu vollziehen. Diese Unfähigkeit wird extrem mythisiert: in der Hochzeitsnacht »schwankt er zum Fenster und sagte wohl zehnmal hintereinander: ›Ich kann nicht!‹ Er schien nicht mich, er schien etwas Fremdes, Entsetzliches zu sehen.« (15/16) Als sie ihn bei seinem Sterben nach diesem Verhalten befragt, sagt er: »›Ja, ja, ja, jetzt darf‘s ich dir sagen, du - -‹ Aber schnell, als ob ich’s nimmermehr wissen dürfte, trat der Tod zwischen mich und ihn und verschloß seinen Mund auf ewig.« (17) Gesetzt wird also, der Grund seines sexuellen Versagens sei irgendwie nicht biologisch, nicht psychologisch bedingt, und diesen Grund auszusprechen, verboten. Dieses mythisierte Tabu ihrer Virginität empfindet Judith als eine Art Stigmatisierung, die sie aus dem Bereich der »Normalität« ausschließt. Sie versucht sich in Religion zu retten und gilt ihrer vielen Gebete halber als fromm: Ich sage Dir, Mirza, wenn ich das tue, so geschieht‘s, weil ich mich vor meinen Gedanken nicht mehr zu retten weiß. Mein Gebet ist dann ein Untertauchen in Gott, es ist nur eine andere Art von Selbstmord, ich springe in den Ewigen hinein, wie Verzweifelnde in ein tiefes Wasser - - (17)

Ihr Vollzug religiöser Rituale ist also ein Versuch, sich vor der eigenen Psyche zu retten. Ihr paradoxer Status als jungfräuliche Witwe schließt sie in ihrer Wahrnehmung aus der Klasse der normalen Frauen aus: Ein Weib ist ein Nichts: nur durch den Mann kann sie etwas werden; sie kann Mutter durch ihn werden. Das Kind, das sie gebiert, ist der einzige Dank, den sie der Natur für ihr Dasein darbringen kann. (17)

Die Frauenrolle wird also extrem reaktionär konzipiert: die Frau hat einen Sinn ihrer Existenz nur, wenn sie durch andere für anderes funktionalisiert wird. Für die von ihr akzeptierte Frauenrolle sieht sie sich ungeeignet: »meine Schönheit ist die der Tollkirsche; ihr Genuß bringt Wahnsinn und Tod« (18). Sie ist also von Anfang an durch einen Schauder vor sich selbst geprägt. Bei ihrem ersten Auftritt erzählt sie denn auch einen Traum, der kaum interpretierbar sein dürfte, aber auch nicht interpretiert werden muß; es reicht festzustellen, daß schon dieser Traum Elemente verknüpft, die in der Folge in Judiths Psyche und Verhaltensweise tatsächlich eine zentrale Rolle spielen werden. Im Traumgeschehen mit seinen Inkohärenzen, seiner scheinbaren Unlogik, seinen Unmotiviertheiten, scheint sich tatsächlich ein Unbewußtes auszudrücken. Im Traum schreitet sie eilig und wie getrieben einem ihr unbekannten Ziele zu; manchmal hält sie an, und »[ich] sann nach, dann war’s mir, also ob ich eine große Sünde beginge; fort, fort! sagt’ ich zu mir selbst und ging schneller« (13). Auffällig ist hier schon die syntaktisch-semantische Ambiguität: es ist unentscheidbar, ob 93

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die »Sünde« – immerhin eine zentrale ideologische Kategorie ihres Glaubenssystems – sich auf das »Gehen« oder dessen »Unterbrechungen« bezieht. »Plötzlich« befindet sie sich auf einem Berg und taumelt, ohne sich dagegen wehren zu können, vorwärts in einen »Abgrund«: »Dunkel, unabsehlich, voll Rauch und Qualm« (13): Gott! Gott! rief ich in meiner Angst, – hie bin ich! tönte es aus dem Abgrund herauf, freundlich, süß; ich sprang, weiche Arme fingen mich auf, ich glaubte, einem an der Brust zu ruhen, den ich nicht sah, und mir ward unsäglich wohl, aber ich war zu schwer, er konnte mich nicht halten, ich sank, sank, ich hört’ ihn weinen, und wie glühende Tränen träufelte es auf meine Wange. – (13)

Sie ruft also die ranghöchste jüdische Instanz an und diese scheint ihr zu antworten, freilich aus einem schaurigen Abgrund, was eigentlich in Opposition zum Bilde Jehovas steht. Im Sturz aufgefangen, erlebt sie einen quasi erotischen Moment, was wiederum mit dem Bilde Jehovas unvereinbar ist; auch kann der Angesprochene, obwohl er in der Logik der syntagmatischen Folge, eigentlich jener Gott sein müßte, der sich gemeinhin als allmächtig geriert, Judith nicht halten, die immer tiefer sinkt. Wir haben also eine »Sünde«, von der unklar ist, worin sie besteht; einen Gott, der sich eher in einer Art Hölle aufhält und in dessen Armen man sich zwar kurzfristig erotisch geborgen fühlen kann, der aber den weiteren tieferen Fall nicht zu verhindern vermag, obwohl er und Judith es möchten; wir haben zudem natürlich die kulturell sich aufdrängende Konnotation, daß ein solcher tiefer Sturz ein »Sündenfall« ist. Schon eingangs wird also, was die Psyche Judiths anlangt, was ihre Beziehung zu ihrem Gott und die Motivationen ihres Verhaltens in der Folge, ein System von Ambivalenzen und Ambiguitäten aufgebaut. In Bethulien bewirbt sich ein gewisser Ephraim um Judith. Sie verspricht, sich ihm zu schenken, wenn er Holofernes tötet und damit Bethulien rettet; vorausgesetzt wird dabei natürlich, entgegen allem Wissen über die Realität, daß das mächtige Assyrerheer ohne ihren Anführer Holofernes hilflos sei – ein weiterer Beleg für den schon skurrilen Kult des großen Einzelnen. Ephraim – darin repräsentativ für die Männer Bethuliens – wagt es nicht, diese Herausforderung anzunehmen, weshalb Judith die Aufgabe selbst übernimmt und damit die Grenzen der tradierten Frauenrolle überschreitet. Es wird gesetzt, Judith habe drei Tage und drei Nächte zu ihrem Gott gebetet; sie selbst referiert: ›Du bist‘s, du bist’s!‹ rief ich mir zu, und warf mich vor Dir nieder und schwur mir mit einem teuren Eid, niemals wieder aufzustehen, oder erst dann, wenn Du mir den Weg gezeigt, der zum Herzen des Holofernes führt. (25) 94

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Wiederum spielt der Text mit Ambiguitäten. Die harmlose Lesart des »Du bist’s« hieße, daß Judith sich an Gott adressiert; aber es heißt eben nicht: »rief ich dir zu«, sondern »rief ich mir zu«. Mit anderen Worten: scheinbar adressiert sich Judith an die metaphysische Instanz außerhalb ihrer, tatsächlich aber nur an sich selbst. Judiths Umgang mit der Gottheit funktioniert offenbar so, als wäre diese ein bloßes Konstrukt, das nichts anderes als ein Teil ihrer Psyche ist. Geradezu freudianisch scheint sie nur zu dialogisieren, während sie in Wirklichkeit einen Monolog mit sich selbst hält. Hervorgehoben sei auch die zweite Ambiguität, wenn sie vom »Weg« spricht, der »zum Herzen des Holofernes führt«. In ein und derselben Formulierung wird ausgedrückt, was sie bewußt will, nämlich Holofernes töten, und was sie unbewußt will, nämlich von Holofernes geliebt werden. In ihrem Gebet findet sie dann den Trick, der bewußte und unbewußte Intention zu vereinbaren erlaubt: Nur ein Gedanke kam mir, nur einer, mit dem ich spielte und der immer wiederkehrt; doch, der kam nicht von Dir! Oder kam er von Dir? – (Sie springt auf.) Er kam von Dir! Der Weg zu meiner Tat geht durch die Sünde! Dank, Dank Dir, Herr! Du machst mein Auge hell. Vor Dir wird das Unreine rein; wenn Du zwischen mich und meine Tat eine Sünde stellst: Wer bin ich, daß ich mit Dir darüber hadern, daß ich mich Dir entziehen sollte! Ist nicht meine Tat so viel wert, als sie mich kostet? Darf ich meine Ehre, meinen unbefleckten Leib mehr lieben als Dich? (25)

Von dem Gedanken, der ihr kommt, meint sie zunächst, er könne nicht von Jehova sein; völlig willkürlich beschließt sie dann, er sei doch göttlicher Herkunft; sie selbst beschließt dezisionistisch, was Gott angeblich von ihr will. Wiederum folgen schönste Ambiguitäten und Ambivalenzen. Nachdem sie konstatiert hat, »der Weg zu meiner Tat geht durch die Sünde«, folgt, »Dank, Dank Dir, Herr! Du machst mein Auge hell«. Der »Dank« kann auf das folgende Syntagma bezogen werden: das wäre die offizielle, theologisch korrekte Lesart – sie würde für die angebliche Erleuchtung danken. Der »Dank« kann aber auch auf das vorangegangene Syntagma bezogen werden: und dann würde Judith für die göttliche Erlaubnis zur »Sünde« danken. In dieser Lesart würde sich unwillentlich ein Unbewußtes der Person manifestieren. Ebenso syntaktisch ambig ist im folgenden Satz das Syntagma »wenn Du zwischen mich und meine Tat eine Sünde stellst«: auf das Folgesyntagma bezogen, hätten wir wiederum die theologisch zulässige Lesart, derzufolge Judith sich eben auch dann Jehova zu unterwerfen hätte, wenn er von ihr eine »Sünde« verlangt; bezogen auf das vorangehende Syntagma hingegen, spräche sich hier wiederum das Unbewußte Judiths aus, das behaupten würde, daß die »Sünde« dann gar keine wäre. Auffällig ist dabei, daß in beiden Fällen syntaktischer Ambiguität die jeweils erste Beziehungsmöglichkeit, also die auf den syntaktischen Vorgän95

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ger, die Lesart liefert, die dem unbewußten und illegitimen Wunsch entspricht; erst die zweite Beziehungsmöglichkeit, die auf die syntaktische Folgemöglichkeit, liefert die eingestehbare, bewußtseinsfähige, ideologisch korrekte Lesart. Zuerst bricht also der unbewußte Wunsch aus, bevor er in einem zweiten Sprechakt einer sekundären Rationalisierung unterworfen wird, die den ursprünglichen Wunsch verdrängt. Im letzten Satz des Zitats setzt sie, sie habe dieses »Du« mehr zu lieben als »meine Ehre, meinen unbefleckten Leib«“. Das scheint zunächst vollständig korrekt im Sinne des alttestamentarischen Gottes zu sein; freilich haben wir oben gesehen, daß es sehr zweideutig ist, mit wem sie spricht, wenn sie »Du« sagt. Da dieses »Du« eben auch – ihr selbst unbewußt – eine Instanz in ihr selbst repräsentiert, legitimiert sie also sich selbst zur sexuellen Hingabe, die sie für eine im Auftrag Gottes hält. Folgerichtig findet sie denn auch plötzlich einen »Sinn« darin, daß sie schön und kinderlos ist. Die uneingestandene Anziehung durch Holofernes wird von ihr anschließend mit einem ideologischen Überbau verziert: jedes Weib hat ein Recht, von jedem Mann zu verlangen, daß er ein Held sei […] Ein Mann mag jedem andern seine Feigheit vergeben, nimmer ein Weib (27).

In der dargestellten Welt ist aber nun das exzeptionelle Individuum Holofernes der einzige Held. Sie rüstet sich denn auch wie zur Hochzeit (28). Im Elend der Belagerung, in dem die Bethulier sogar Kannibalismus befürchten, beschließen sie, noch fünf Tage auf die »Hülfe des Herrn« (40) zu harren, wenngleich Judith, fast schon blasphemisch, anmerkt: »Und wenn der Herr nun noch fünf Tage länger braucht« (40). Sie akzeptiert diese Frist von fünf Tagen und wird selbst erst am fünften Tage tätig. Das bedeutet nun aber offenbar, daß sie erst einmal dem »Herrn« die Chance zu seiner »Hülfe« einräumt; und erst nachdem dieser nichts getan hat, wird sie tätig. Was für sie wohl heißt, daß der »Herr« sie tatsächlich zu seinem Instrument auserwählt hat, bedeutet auf der Textebene natürlich, daß sie statt seiner handeln muß, weil er nichts tut. Im 4. Akt nun tritt Judith tatsächlich in das Zelt des Holofernes und verspricht ihm die Unterwerfung Bethuliens, weil er das Volk strafen wolle um seiner Sünde willen. Holofernes: Was ist Sünde? Judith (nach einer Pause): Ein Kind hat mich das einmal gefragt. Dies Kind hab ich geküßt. Was ich dir antworten soll, weiß ich nicht. (50)

Daß Holofernes das jüdische Konzept der »Sünde« nicht kennt, ist nicht erklärungsbedürftig, wohl aber, daß Judith nicht zu wissen behauptet, was sie antworten soll. Natürlich weiß sie, daß »Sünde« alles ist, was eines der 96

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unzähligen Gebote Jehovas verletzt. Warum teilt sie mit, sie habe das unwissende Kind geküßt. Das »Kind« wird in Opposition zum »dir«, also zu Holofernes gesetzt. Die Opposition legt nahe, daß man den auf seine Weise »unschuldigen« Holofernes – »unschuldig«, weil normfrei – einerseits auch küssen könnte, andererseits aber auch nicht. Die Betonung des »dir« legt aber auch nahe, daß Judith sehr wohl jedem anderen erklären könnte, was »Sünde« sei. »Sünde«, verstanden als Sexualakt mit Holofernes, ist ein Begriff, der sich für Judith, wie wir gesehen haben, in ihrem Gebet ja schon fast als Gottes Wille in »Nicht-Sünde« aufgelöst hat. Im 5. Akt nun kommt es zur entscheidenden Auseinandersetzung zwischen Judith und Holofernes, als diese am fünften Tag wieder in sein Zelt tritt. Vor ihrem Auftritt hat sich Holofernes noch über seine Konzeption der Frauenrolle geäußert. Einerseits sind ihm alle Frauen austauschbar: »Weib ist Weib, und doch bildet man sich ein, es sei ein Unterschied« (58). Für Holofernes existiert also jene aus der Aufklärung um die Mitte des 18. Jahrhunderts hervorgegangene neue Konzeption von »Liebe« nicht, derzufolge die Partnerin nicht ein beliebiges, austauschbares Sexualobjekt sein sollte. Für Holofernes ist Sexualität ein Kampf, bei dem der Mann das »Weib« auch wider ihren Willen – und dennoch zu ihrer Lust – unterwirft. Solche Sexualität ist ihm sogar eine Art sinngebender Wert, der emphatisches Leben garantiert: »ja, das ist Leben, da erfährt man’s, warum die Götter sich die Mühe gaben, Menschen zu machen« (58). Genau nun diese Form von Sexualität strebt er mit Judith an: »aber in ihrem Herzen wohnt niemand, als ihr Gott, und den will ich jetzt vertreiben […] sie soll vor mir vergehen durch ihr eignes Gefühl, durch die Treulosigkeit ihrer Sinne.« (58) Im folgenden Gespräch der beiden bricht die ambivalente Einstellung Judiths zu Holofernes immer wieder aus. Einerseits provoziert sie ihn extrem, indem sie ihm etwa erklärt, er müsse sie verachten, wenn sie ihn liebe, indem sie ihm mitteilt, sie hasse und verfluche ihn, indem sie ihn wissen läßt, sie sei hier, um ihn zu ermorden. Holofernes seinerseits betreibt, eifrig perorierend, Selbstdarstellung, manchmal peinlich infantil-narzißtisch, manchmal durchaus eindrucksvoll. Dann bricht die andere Seite ihrer Ambivalenz aus: Judith. […] (leise) Gott meiner Väter. Schütze mich vor mir selbst, daß ich nicht verehren muß, was ich verabscheue! Er ist ein Mann. (62) […] Judith. (für sich) Hör auf, hör auf! Ich muß ihn morden, wenn ich nicht vor ihm knieen soll. (63) […] Judith. […] Mensch, entsetzlicher, du drängst dich zwischen mich und meinen Gott! Ich muß beten in diesem Augenblick, und kann’s nicht! Holofernes. Stürz hin und bete mich an! (64) 97

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Holofernes führt Judith in sein Schlafgemach und diese äußert im Abgehen: »Ich muß – ich will – pfui über mich in Zeit und Ewigkeit, wenn ich nicht kann« (65). Wiederum ist die Stelle natürlich ambig und drückt sowohl den offiziellen Tötungswunsch als auch den inoffiziellen Hingabewunsch aus. Wenn sie wieder in Erscheinung tritt, hat der Koitus stattgefunden und Holofernes war sogar in seinem Programm erfolgreich, insofern Judith in ihrer »tiefsten Erniedrigung« (68) Lust empfand, indem ihre »Sinne« »gegen [sie] aufstehen« und sie anfing, »[ihre] Schande für [ihr] wahres Sein« (69) zu halten (69). Nun im Nachhinein empfindet sie diesen Koitus als »rohen Griff in meine Menschheit« (67), als ein »Opfer«, dessen »Wert« vom Partner nicht entsprechend emotional gewürdigt worden ist. Es ist einerseits die Hingabe der Jungfrau als ideologischer Wert, dessen Würdigung sie bei Holofernes vermißt; es ist andererseits die von ihr empfundene Mißachtung ihrer Person und Individualität, die sie zur Tötung veranlaßt. Im Gespräch mit ihrer Dienerin Mirza wird aufgedeckt, daß in ihr der ursprüngliche ideologisch positive Grund, Holofernes zu töten, nämlich das »Elend meines Volkes« (71) zu beenden, durch den rein privaten, rein psychischen Grund, nämlich ihre Entwertung durch Holofernes, substituiert wurde. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen Judith und einer ebenfalls exzeptionell zu nennenden Figur aus Storms Novelle Ein Fest auf Haderslevhuus (1885). Die schöne Wulfhild mit »Glutaugen« und »wellige[m] Goldhaar« (LL 3, 394) ist eine Selbstbehauptungskünstlerin. Sie will Triebe und Sexualität ausleben ohne die ambig interpretierbaren quasi-religiösen Zweifel der Judith, denn »das Leben rinnt« (LL 3, 417). Vor ihrer Heirat mit dem flatterhaften Rolf tötet sie ihren ersten Mann, da dieser sie durch seinen Verkehr mit »einfachen Dirnen« betrogen hat. Wulfhilds Giftmord an ihrem brutalen, sie durch Flüche erniedrigenden Ehemann wird im Text als Notwehrakt gekennzeichnet, der es Wulfhild ermöglicht, ihre Würde aufrechtzuerhalten. Anstelle einer Sanktionierung oder Verurteilung erhält sie in der Folge sogar die Gelegenheit, eine zweite Ehe einzugehen, die dann aber ebenso unglücklich verlaufen wird. Storms Wulfhild kann als eine auf die Literatur des Lebenskultes in der Frühen Moderne vorverweisende Figur angesehen werden4, die keine (oberflächlich) religiösen Motivationen benötigt, um gegen ihre Entwertung durch die Männerwelt anzugehen – wenn nötig mit Gewalt. Bemerkenswert ist, daß Judith nach der Tötung und auch nach ihrer Rückkehr in Bethulien, wo sie als Heldin und Retterin gefeiert wird, sich   4 Siehe Hermann Korte: Tanz und Tod. Storms Novelle „Ein Fest auf Haderslevhuus“. In: ders.: Ordnung und Tabu. Studien zum poetischen Realismus. Bonn 1989, 127–147; hier: 138. 98

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nirgendwo mehr auf einen Gott – auf Jehova und dessen unterstellte Inspiration – beruft. Nachträglich legitimiert sie ihre Tat damit, daß sie ihren Mitbürgern die Fortsetzung ihres kleinbürgerlichen Familienlebens ermögliche. Freilich verkündet sie ihnen auch, sie habe »den ersten und letzten Mann der Erde« getötet (78). Für die exzeptionelle Frau Judith ist demnach der exzeptionelle Mann Holofernes der einzig mögliche Partner, und die denkbare Beziehung scheitert eigentlich daran, daß er ihren Wert und Rang nicht erkennt. Jene Unfruchtbarkeit, die sie sich zunächst als Makel vorgeworfen hat, ersehnt sie nun und erbittet als Lohn ihrer Tat nur, sie zu töten, wenn sie schwanger sei: die Begegnung der exzeptionellen Subjekte über die Kulturgrenzen hinweg darf keine Folgen haben. Daß Judith überhaupt am areligiösen, alle Normen verletzenden Holofernes zumindest partiell Gefallen finden konnte, impliziert, daß sie sich weit von der Religion ihres Herkunftsraumes und dessen Gott, der am Ende ohnedies keine Rolle mehr spielt, entfernt hat. Der Text stellt ganz sicher nicht einen Sieg des jüdischen Monotheismus über den assyrischen Polytheismus oder den praktischen Atheismus des Holofernes dar: es geht um ein erotisches Psychodrama zwischen Ausnahmesubjekten. In Gyges und sein Ring5 treten wir scheinbar in eine ganz andere Welt ein: statt der »Sturm und Drang-Attitüden« in Judith und der prosaischen Sprachform die Attitüde des »Klassizismus« und der 5-hebige Jambus, statt des pubertären Macho-Gehabes zivilisiert-respektvolle Protagonisten. Einiges bleibt freilich dennoch konstant: Wie in Judith, wie in Herodes und Mariamne, wie in den Nibelungen, gibt es im Zentrum eine individualisierte und herausragende Frau, die eine – von einem oder mehreren Männern verantwortete – narzißtische Kränkung erleidet, die den Kern ihrer Psyche betrifft und erotische Implikationen hat. In all diesen Texten findet sich eine weibliche Protagonistin zudem in einer – von ihr nicht zu verantwortenden – Dreieckssituation. Judith hatte gar drei solche Situationen auszuhalten: in der ersten schiebt sich ein unbekanntes X zwischen sie und ihren Gatten Manasse, in einer zweiten gibt es den faktischen Bewerber Ephraim und den erhofften Holofernes, in der dritten und wichtigsten, konkurrieren in ihrer Wahrnehmung Jehova und Holofernes, und letzterer siegt. In Herodes und Mariamne haben wir das titelgebende Ehepaar und den von Herodes jeweils befürchteten Rivalen, in den Nibelungen die Ausnahmesubjekte Brunhild und Siegfried und den unbedeutenden Gunther, zudem die abgeschwächte Dreierkonstellation von Siegfried, Kriemhild und Etzel. In Gyges   5 Zitiert wird nach Friedrich Hebbel: Gyges und sein Ring. Eine Tragödie in fünf Akten. Stuttgart 1983, die der historisch-kritischen Ausgabe. Besorgt von Richard Maria Werner. Erste Abteilung, Dritter Band. Berlin 1911, folgt. 99

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schließlich kreisen Kandaules und Gyges um Rhodope. Mit anderen Worten: die Hebbelschen Dramen ließen sich beschreiben als Transformationen voneinander, und das gilt auch für die Frauenrollen und für die psychisch-erotischen Konflikte, in die sie und anhand ihrer die Männer fallen. Die Frauen sind von Anfang an oder werden in der Folge starke Personen; problem- und konfliktauslösend sind aber die Männer, die entweder diesen Frauen nicht gewachsen sind oder sie nicht verstehen; wenn der Konflikt ausgebrochen ist, sind es die Frauen, die über den Ausgang entscheiden, indem sie sich (Judith, Rhodope, Mariamne) oder andere (Holofernes, Kandaules, Gyges, Siegfried) opfern, wobei »Opfer« meist auch eine mythisch-religiöse Dimension hat. Selbst potentiell optimale Paare (z. B. Herodes – Mariamne, Kandaules – Rhodope) scheitern und a fortiori, wenn sie Ausnahmesubjekte sind (Judith – Holofernes, Brunhild – Siegfried). Auffälligerweise teilen die potentiell idealen Paare Merkmale, was die Familienstruktur betrifft. Sie haben keine Herkunft: Mütter fehlen oder sind eher unerfreulich, Väter spielen kaum eine Rolle. Und sie haben keine Zukunft: Kinder sind nicht vorhanden. Das heißt: das ideale Paar würde sich selbst genügen und vollständig aus dem geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext heraustreten; sie scheitern daran, daß das nicht gelingt. Hebbel kann seine Protagonistenpaare in seinen Dramen zwar in unterschiedlichste historische und kulturelle Umwelten versetzen, aber wie fern diese der europäischen Gegenwart seiner Zeit auch sein mögen, konstruiert er doch immer eine im wesentlichen invariante menschliche Natur, in der es als außerzeitlich gedachte Geschlechterrollen und folglich konstante psychische Probleme im Umgang miteinander gibt. Im Handlungsraum von Gyges und sein Ring finden sich Vertreter dreier Gruppen, die als verschiedene Kulturen interpretiert werden. Neben den einheimischen Lydiern und ihrem König Kandaules stehen die beiden weiteren Hauptfiguren, der Grieche Gyges und die Inderin Rhodope – beide sind also im Handlungsraum Fremde von außen. In der dargestellten Welt scheinen alle Frauen verschleiert aufzutreten, so auch die Sklavinnen Lesbia und Hero. Während diese aber, wenn auch verschleiert, an den veranstalteten quasi olympischen Wettspielen als Publikum teilnehmen, gilt für Rhodope eine weitaus strengere Regel, sich nicht einmal verschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen, und unverschleiert haben sie nur ihr Vater und ihr Ehemann gesehen. Diese radikale Norm, die ihrem Herkunftsraum zugeschrieben wird, akzeptiert Rhodope nicht nur: sie identifiziert sich mit ihr und behandelt den Schleier als Teil ihrer Person. So konstatiert ihr Gatte Kandaules: »Dein Schleier ist ein Teil von Deinem Selbst« (III, 991). Der lexikalische Komplex um »Schleier« und seine Derivate und quasiSynonyme – »verschleiert«, »entschleiert«, »verhüllen«, »enthüllen« – sind im Drama stark rekurrent. Zunächst sei nur eine erste – unproblematische 100

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– Bedeutung festgehalten. Schon im 1. Akt wird Kandaules als ein König präsentiert, der, quasi wie ein Aufklärer, mit alten Bräuchen und Traditionen seines Herrschaftsraums zu brechen bereit ist: »entschleiern« bzw. »enthüllen« gehört bekanntlich in der Literatur der Goethezeit zu den typischen Metaphern für Aufklärung; es ist also nur logisch, wenn Kandaules immer wieder dazu neigt, Rhodope entschleiern zu wollen. Seiner Neigung zur Aufklärung entspricht auch die betonte Milde seines politischen Verhaltens. Diese Milde wird vom Text freilich ambivalent bewertet, indem schon früh im Drama die Existenz innerer und äußerer Feinde des Kandaules thematisiert wird, die von dieser Milde profitieren würden. Am Textende heißt es denn auch, Nachbarn seien kriegerisch in Lydien eingefallen, und dem neuen König Gyges fällt der Auftrag zu, die gegebene Ordnung zu verteidigen bzw. wiederherzustellen. Die Milde des Kandaules manifestiert sich aber auch darin, daß er den jungen Griechen Gyges trotz des Rang- und Machtunterschiedes nicht bloß als einen Günstling, sondern als gleichrangigen Freund behandelt. Gyges macht bekanntlich dem König einen Ring zum Geschenk, den er in einem Grab der Vorzeit gefunden hat und der seinen Träger unsichtbar zu machen vermag. Kandaules erprobt den Ring zuerst politisch, indem er eine Versammlung seiner inneren Feinde belauscht. Aus diesen Informationen über die »Empörer« zieht er freilich keine Konsequenzen: Nur, weil ich strafen müßte, und nicht mag. Das Leben ist zu kurz, als daß der Mensch Sich drin den Tod auch nur verdienen könnte, Darum verhinge ich ihn heut nicht gern! (I, 449-452)

Die Herkunft des Ringes erfährt im Text zwei unterschiedliche Interpretationen. Deren erste stammt von Rhodope, als sie Kandaules auffordert, den Ring wegzuwerfen, weil die durch ihn verliehene Macht Menschen nicht angemessen sei, sondern allenfalls Halbgöttern; der Ring stamme aus einer mythischen Vorzeit, »Wo Gott und Mensch noch miteinander gingen / Und Liebespfänder tauschten« (I, 424 – 425). Ihn zu behalten berge das Risiko, sich die Rache der Götter zuzuziehen. Wenn in der Tat die Katastrophe dank des Ringes eingetreten ist, ist es Kandaules, der über dessen Herkunft spekuliert. Wo der Ring laut Rhodope ein Liebespfand zwischen einer Göttin und einem Sterblichen gewesen wäre, ist er laut Kandaules Instrument der blutigen Auseinandersetzung zwischen der älteren Göttergeneration des Kronos und der jungen des Zeus, in welcher Kronos gestürzt und kastriert wird. Zwischen dieser mythologischen Interpretation und dem aktuellen Geschehen bestehen offenkundig Homologien. Dem Herrschaftswechsel im Olymp von Kronos zu Zeus entspricht in Lydien der Herrschaftswechsel 101

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vom älteren Kandaules zum jüngeren Gyges, der ebenfalls – wenn auch von beiden ungewollt – mit Gewalt ausgetragen wird und mit dem Tod des Kandaules endet. Die Leistung des Ringes ist also, daß er eine Annäherung an Gottähnlichkeit ermöglicht; sein Besitzer kann jederzeit in die Intimsphäre jedes Individuums eindringen. So reflektiert denn Gyges auch, wenn er den Ring behalten hätte, »dann würd’ ich / Sie sehen können, wie sie nur die Götter sehen!« (II, 701 – 702). Nun hat Kandaules ein seltsam-pubertäres Problem: seiner Annahme nach besitzt er in Rhodope die schönstmögliche Frau, doch wisse das leider niemand, weil sie sich nur von ihrem Gatten sehen läßt. Kandaules zu Gyges: Ich brauche einen Zeugen, daß ich nicht Ein eitler Tor bin, der sich selbst belügt, Wenn er sich rühmt, das schönste Weib zu küssen, Und dazu wähl ich dich. (I, 531-534) […] […] Und ich bin Erst glücklich, wenn dein Mund mir sagt, ich sei’s. (I, 538-539)

Wir haben hier einerseits einen seltsamen Mangel zum eigenen Urteil, andererseits ein merkwürdiges Bedürfnis, mit dem eigenen Wert der Frau zu prahlen. Eine solche Besichtigung kann freilich nur gegen deren Willen stattfinden, und Kandaules überredet Gyges gegen dessen Sträuben, sich noch in dieser Nacht mithilfe des Ringes ein Bild von der Schönheit Rhodopes zu machen. Wiederum geschieht psychologisch Seltsames: wie in Judith gilt auch in Gyges und sein Ring ein merkwürdig entautonomisierender Automatismus. Zum einen reicht es dem Subjekt nicht, daß es ein anderes als »schön« empfindet; es bedarf eines Beweises durch sozialen Konsens. Zum anderen fungiert »Schönheit« als ein unbedingter Auslöser, auf den Männer, wie Pawlowsche Hunde, schon beim ersten Anblick, unrettbar abfahren; eine Kenntnis der Person und ihrer Individualität ist dazu nicht nötig. Was bei Holofernes, dem es nur um Befriedigung eines Begehrens geht, verstehbar ist, ist es nicht bei Gyges, bei dem schon der flüchtige Anblick Liebe auslöst (IV, 1537). Diese Liebe auf den – weiß Gott! – ersten Blick wird als absolut ranghöchster, die eigene Existenz rechtfertigender Wert erfahren: Ich wurde reif zum Tode, denn ich sah, Daß alles, was das Leben bieten kann, Vergeben war. (IV, 1492-1494)

Der Anblick Rhodopes bewegt Gyges so sehr, daß er hörbar seufzt und sich sogar dazu versteigt, sich einen Moment sichtbar zu machen, und Kandau102

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les schafft es nicht, diesen Anblick mit dem eigenen Körper gänzlich abzudecken. Rhodope nimmt die Indizien der Anwesenheit eines Dritten wahr und beginnt eine Art kriminalistischer Untersuchung, die zur Aufdeckung der Absprache zwischen Gyges und Kandaules führen wird. Im Gegensatz zu Kandaules erfährt sich Gyges schon am nächsten Morgen als schuldig: Und jetzt noch schauert’s durch die Seele mir, Als hätt’ ich eine Missetat begangen, Für die der Lippe zwar ein Name fehlt, Doch dem Gewissen die Empfindung nicht. (II, 631-634)

Ein Delikt ist also begangen worden, für das es keine kulturell verfügbare Benennung zu geben scheint; daß dieses Delikt keiner kulturellen Klasse subsumiert werden kann, erweist es als singuläres und ranghöchstes Delikt, schlimmer sogar als Mord, wie wir in der Folge erfahren. Von »Befleckung« spricht schon Gyges und danach Rhodope selbst: »Ich bin befleckt, wie niemals noch ein Weib!« (III, 902). »Befleckt« sind hier also nicht primär die Täter – »befleckt« ist das unschuldige Opfer. Gesetzt wird, daß sie jetzt einen Makel trägt, der nur durch das Blut des oder der Täter ausgelöscht werden kann; andernfalls muß sie sich selbst töten: […] Hört’ ich’s doch In frühester Jugend schon, daß die Befleckte Nicht leben darf, und wenn mich das als Kind Durchschauert hat, jetzt hab ich den Grund Für dies Gesetz in meiner Brust gefunden: Sie kann nicht leben, und sie will’s auch nicht! (IV, 1268-1273)

Rhodope akzeptiert also die mythische Norm und identifiziert sich mit ihr. Die »Befleckung« kann also nur durch ein Menschenopfer getilgt werden, und »Opfer« ist denn auch ein rekurrentes Lexem des Textes. Schon am Morgen nach dieser Nacht bietet Gyges dem Kandaules an: »Nimm mich als Opfer an!« (II, 660). »Befleckung« ist also ein quasi sakrales Delikt, das dem Opfer der »befleckenden« Tat angelastet wird. Sie ist etwas, was die Götter selbst verfolgen, wie Rhodope sagt: […] Er hat gefrevelt Am Heiligsten, er hat den schwersten Fluch Auf mich herabgezogen, jenen Fluch, Den alle Götter wider Willen schleudern, Weil er nur Menschen ohne Sünde trifft, Er ist es, der mich töten lehrt! (III, 1224-1229)

Auch die Natur selbst erträgt solche »Befleckung« nicht. Wiederum Rhodope: 103

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Die Elemente brauchen’s nicht zu künden, Daß die Natur vor Zorn im Tiefsten fiebert, Weil sie verletzt von einem Weibe ist. (IV, 1516-1518)

Nicht also um ein juristisches Delikt, sondern um ein metaphysisches geht es bei der »Befleckung«. Noch mehr kann, was hier geschehen ist, kaum überhöht werden – aber was ist denn geschehen? Gegen den Willen und das Normensystem Rhodopes und ohne ihr Wissen hat Kandaules seinen Freund Gyges Rhodopes unverschleiertes Gesicht sehen lassen. Verstehbar wäre, wenn Rhodope nach der Aufdeckung dieses Normverstoßes sich bei ihrem Manne beschweren würde; nicht verstehbar ist, daß sie, darin durch Gyges bestätigt, aus dem Geschehen eine unsühnbare metaphysische »Befleckung« macht. Am Tag vor der illegitimen Besichtigung Rhodopes hatte Gyges Wohlgefallen an der ebenfalls verschleierten Sklavin Lesbia gefunden, die als Zuschauerin bei den Wettkämpfen präsent war, die Gyges gewann. Am Morgen nach der verhängnisvollen Nacht macht Kandaules diese Sklavin – und offenbar nicht gegen deren Willen – dem Gyges zum Geschenk, der die Gabe dezidiert ablehnt, da er ja jetzt Rhodope liebt. Lesbias Bereitschaft zeigt sich darin, daß sie sich entschleiern will, wovon Gyges sie abhält. Wenn die Frau sich vor dem Manne entschleiert, fungiert dies offenbar als Zeichen ihrer Hingabebereitschaft. Eine Frau unverschleiert zu sehen erhält somit sexuelle Konnotationen. Wenn im 4. Akt Rhodope Gyges zum Geständnis des Geschehenen veranlaßt hat, heißt es: Rhodope (macht mit der Hand eine abwehrende Bewegung). Er hat sein Gattenrecht dir abgetreten? Gyges. Nenn es nicht so. (IV, 1479-1480)

Die Stelle ist unzweideutig ambig: in Rhodopes Sicht hätten nur ihr Vater und ihr Gatte das Recht, ihr Gesicht unverschleiert zu sehen; in diesem Sinne hätte in der Tat Kandaules zwar ein Gattenrecht, nicht aber sein Gattenrecht, nämlich die Verfügung über die Sexualität der Frau, abgetreten. Rhodopes Formulierung inkludiert also auch Möglichkeiten, die nicht stattgefunden haben. Gyges’ Erwiderung müßte somit also eigentlich sein, daß »Abtretung des Gattenrechts« eine unzutreffende Kategorisierung des Geschehenen sei; eine unzulässige Generalisierung, weil Kandaules eben nur ein Gattenrecht, aber keineswegs alle »Gattenrechte« abgetreten hätte. Stattdessen bittet er nur um die Vermeidung der Benennung. Er akzeptiert also Rhodopes Klassifikation des Sachverhalts, möchte sie aber nicht ausgesprochen wissen. Um eine Abtretung des Gattenrechts, also aller Gattenrechte, kann es sich logischerweise nur dann handeln, wenn die Entschleierung als äquivalent mit einem symbolischen Sexualakt gedacht wird. Dann hätte gegen den Willen Rhodopes tatsächlich eine – wie das im Jar104

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gon der Epoche hieße – »Entehrung« stattgefunden, bei der der Gatte seinem Freunde die Frau für einen Sexualakt zur Verfügung gestellt hätte. Aber auch wenn in Rhodopes Psyche eine solche symbolische Äquivalenz zwischen dem Sehenlassen ihres Gesichts und einer temporären erotischen Abtretung besteht, ist damit natürlich nicht erklärt, warum der Text daraus einen metaphysischen Frevel macht, der alle denkbaren kriminellen Delikte überböte, denn die Abtretung hätte ja nicht real, sondern nur symbolisch stattgefunden, wie Rhodope weiß. Die Interpretation, daß die Frau unverschleiert sehen zu lassen einer symbolischen sexuellen Inbesitznahme durch einen Dritten äquivalent ist, verringert zwar die semantische Kluft zwischen dem, was real stattgefunden hat, nämlich daß Gyges Rhodopes Gesicht sah, und dessen Kategorisierung als ranghöchstes Vergehen, das durch ein »Opfer« mit Blut gesühnt werden muß: aber sie tilgt diese Kluft nicht. Die Stilisierung des realen Vergehens zu einem mythisch-metaphysischen, bei dem gleich die gesamte göttliche und weltliche Weltordnung infragesteht, muß implizieren, daß hier eine extreme Konzeption der Frauenrolle vertreten wird, die nur sehr schwer zu präzisieren sein dürfte. In der Folge jedenfalls akzeptieren sowohl Gyges als auch Kandaules stillschweigend die unausgesprochene Deutung des Geschehenen als symbolischen Sexualakt, die Rhodope implizit gesetzt hat. Als »tugendhafte« Frau kann Rhodope selbstverständlich nur einen Ehemann akzeptieren, weshalb entweder Gyges oder Kandaules getilgt weden muß. Sobald Kandaules als der erste Verursacher identifiziert ist, muß somit er getilgt werden und Gyges, da er im psychischen Symbolsystem Rhodopes mit ihr geschlafen hat, geheiratet werden. Indem sie sich Gyges vermählt, beseitigt sie die »Entehrung«; indem sie sich tötet, bestätigt sie ihre Bindung an Kandaules. Angemerkt sei noch, daß sich die drei Protagonisten geradezu einen Wettstreit in Edelmut liefern; sie rivalisieren geradezu darum, wer sich als religiöses »Opfer« darbieten darf. Das Problem der Nacktheit einer Frau, die von einem Mann beobachtet wird, lässt sich auch bei Storm in der Novelle Psyche finden. Die Rettung des nackten Mädchens aus der Nordsee durch den Künstler Franz führt zunächst zu heftigen Kommunikationsproblemen, da das »Schamgefühl zur Wahrung der geltenden Werte«6 das Sprechen über die Rettung im Keim erstickt: »Kathi! Ich kann ihm nicht danken! Nie, niemals!« (LL 2, 325). Doch der Rückgriff auf antike Literatur (Amor und Psyche des Apuleius) und Bildhauerei rechtfertigt bei Storm die »heimliche Entdeckung des nackten Kör  6 Jean Lefebvre: Autonomie und Fremdbestimmung im künstlerischen Schaffen. Theodor Storms „Psyche“ als Antwort auf Bernardin de Saint-Pierres „Paul et Virginie“. In: STSG 57 (2008), S. 37–56; hier: 49. 105

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pers«7 und legitimiert diese poetologisch. Während bei Hebbel also der Bezug zum antiken Vorbild das Schuld- und Sühnedenken hervorbringt und die Enthüllung ein menschliches Opfer fordert, kann bei Storm das Sühnedenken (dem zunächst die Sprache zum Opfer fällt) durch »antikisierende Elemente«“8 im Gegenteil überwunden werden. Bevor Gyges und Kandaules den für Kandaules tödlichen Zweikampf inszenieren, darf Kandaules noch eine zentrale ideologische Stellungnahme abgeben: Kandaules. […] die ganze Schuld ist mein! Gyges. Doch, welche Schuld! Kandaules. Das Wägen ist an ihr! – Auch ich fühl’s wohl, ich habe schwer gefehlt, Und was mich trifft, das trifft mich nur mit Recht. Das schlichte Wort des alt-ehrwürd’gen Dieners Hat mich belehrt. Man soll nicht immer fragen: Was ist ein Ding? Zuweilen auch: was gilt’s? Ich weiß gewiß, die Zeit wird einmal kommen, Wo alles denkt, wie ich; (V, 1802-1810)

Kandaules trifft hier eine wesentliche Unterscheidung: zwischen einem Sachverhalt an sich und dessen kultureller Bewertung. An sich hätte demnach nichts übermäßig Gravierendes stattgefunden: Kandaules hätte Gyges, freilich gegen deren Willen, Rhodopes Gesicht sehen lassen. Nun muß er aber erkennen, daß dieses vergleichsweise geringfügige Vergehen anderen als ein höchstrangiges gilt. Er erkennt in der Folge, daß sein Versuch der Aufklärung, auch im politischen Umgang mit seinen Lydiern, gescheitert ist, wenngleich er zu wissen glaubt, daß man irgendwann wie er denken werde. Er hat sich über Traditionen und überlieferte Werte als »ein vorwitz’ger Störer« (V, 1848) hinweg gesetzt, er hat eine schlafende Welt gegen deren Willen geweckt. Entworfen wird somit eine Geschichtsphilosophie, die darauf hinausläuft, daß ein gegebener Zustand nicht gegen den Willen der Betroffenen, wenn diese einer Vergangenheit und einer Tradition verhaftet sind, im Sinne eines aufklärerischen Fortschrittdenkens optimiert werden kann. Er hat tradierte Normierungen nicht respektiert und bezahlt dafür mit dem politischen und privaten Scheitern. Dem Nachfolger Gyges hinterläßt er daher den Rat: »Nur rühre nimmer an den Schlaf der Welt« (V, 1855). Was in Gyges und sein Ring nur auf der Ebene impliziter, unausgesprochener semantischer Äquivalentsetzungen geschieht, wird in Die Nibelungen explizit und manifest vollzogen: die temporäre Abtretung der eigenen Frau.   7 Ebd., S. 50.   8 Siehe den Kommentar in LL 2, 887. 106

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Sowohl Gyges als auch Siegfried werden zu ihrem Verhalten von den Ehemännern, Kandaules bzw. Gunther, von denen der eine die Ehe freilich schon vollzogen hat, der andere sie gern vollziehen möchte, angestiftet. Sowohl Gyges als auch Siegfried bedienen sich eines magischen Instruments, das sie unsichtbar macht, und beide entwenden der Frau, Rhodope bzw. Brunhild, ein verräterisches Schmuckstück. Beide Frauen wollen den Tod dessen, der sie – metaphorisch wie Gyges oder real, wie Siegfried – »entehrt« hat, wenn auch mit unterschiedlichen Folgen: Rhodope läßt den Ehemann sterben, Brunhild dessen Substitut, Siegfried. Beide bezahlen ihrerseits die Tilgung des an ihnen begangenen Deliktes mit dem eigenen Leben: Rhodope durch einen realen Tod, Brunhild durch einen metaphorischen im Grabgewölbe Siegfrieds. Bemerkenswert rekurrent ist dabei die Selbstbestrafung der Frauen für etwas, das sie nicht zu verantworten haben; das gilt für Rhodope, Mariamne, Brunhild, tendenziell auch für Judith, die ja ihren künftigen Tod als Möglichkeit plant. Am Rande sei bemerkt, daß keine dieser Frauen ein Fortleben nach dem Tode in irgendeinem Jenseits erwägt – Mariamne schließt eine solche Unsterblichkeitserwartung sogar explizit aus. Es gibt im Werk Hebbels offenbar zum einen die durchaus komplexe Psychologie der Figuren; es gibt aber zum anderen eine Ebene psychologischer Probleme, die nicht die der Figuren, sondern eine solche der Texte selbst ist. Was ich meine, kann im gegebenen Kontext nur an einem Beispiel angedeutet werden. In den Texten Hebbels scheint es zwei untereinander korrelierte erotische Phantasmen zu geben. Das eine ist die Angst des Mannes, von der Frau betrogen zu werden (Herodes und Mariamne, Genoveva), das andere ist zu diesem komplementär: die Abtretung der Frau durch den Mann. Hinsichtlich der Darstellung komplexer psychischer Vorgänge zeigt Hebbel demnach eine Modernität, die auch seinen Zeitgenossen aufgefallen ist. Theodor Storm, der Hebbels Werke gut kannte – sogar dessen posthum veröffentlichte Tagebücher9 – und besonders seine Lyrik sehr schätzte (in sein Hausbuch nahm er zehn Gedichte Hebbels auf10), äußerte sich über seinen Dithmarscher Dichterkollegen: »Er reflektiert fast immer, ist der modernste aller Poeten«11. Dass dabei zwar eine gewisse Unmittelbarkeit verloren ginge, kritisiert Storm, sieht aber insgesamt »viel Schönes«12 in den   9 Siehe Kommentar in Storm-Heyse III, 326. 10 Anne Petersen: Die Modernität von Theodor Storms Lyrikkonzept und sein Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung; 10). Berlin 2015, S. 164 11 LL 4, 503-504. 12 Theodor Storm an Klaus Groth, 5. Dezember 1867, S. 45. 107

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Gedichten. In den Dramen aber fehle »so ganz das Behagen«13, den HebbelArtikel Klaus Groths habe er sowohl mit großem Interesse als auch mit »einigem Schauder« gelesen – vielleicht vor dem Dunklen und Unabsehlichen im Werk Hebbels, dessen Gedanken oftmals – so Storm – »durch diese Welt zur Hölle«14 gehen.

13 Ebd. 14 Storm an Christine Hebbel, 7. Februar 1885. Abgedruckt in Theodor Storm – Paul Heyse III, 326. 108

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Buchbesprechungen Theodor Storm in Husum / Text: Jochen Missfeld und Christian Demandt ; Photographien: Angelika Fischer. Berlin : Edition A.B. Fischer, 2016 (Menschen und Orte). 32 Seiten. Manche Dichter haben gar kein Haus, Storm hatte mehrere und immer genügend Platz und Raum, das auszubreiten, was für die Arbeit eines Schriftstellers nötig ist, alles auf Abruf zu haben und auch die Ergebnisse zu zeigen und zu ordnen. Manche Dichter haben gar keinen Ort oder so viele, dass man sich auf ihren Geburtsort einigt, auch wenn sie ihn schon früh verlassen und nie wieder betreten haben, wie Friedrich Hebbel sein Wesselburen oder auch Wolfgang Koeppen, dem es mit Greifswald ähnlich ging. Bei Theodor Storm ist das anders. Storm war Husum, heute mehr denn je, da hilft es ihm auch wenig, dass er im Alter nach Hademarschen entfloh. Stormstadt Husum, aller Orten auf Schritt und Tritt, ein Gütesiegel und das wohl sehr zu Recht. Eine kleine feine Berliner Edition (etwas prosaisch Edition A. B. Fischer geheißen) gibt seit einigen Jahren eine Reihe heraus: Menschen und Orte. 32 Seiten, mit schwarz-weiß Fotos illustriert, klammergeheftet. Lauter kleine bibliophile Kostbarkeiten; wir finden darin (u.a.): Richard Dehmel in Blankenese, Ernst Barlach in Güstrow, Otto Dix in Hemmenhofen, Goethe bei Frau von Stein, Wolfgang Koeppen in Greifswald, Droste-Hülshoff im Rüschhaus, Karen Blixen auf Rungstedlund, Gerhart Hauptmann auf Hiddensee, Marie-

Luise Kaschnitz in Bollschweil, Arno Schmidt in Bargfeld, Karl May in Radebeul und seit vergangenem Jahr nun auch: Theodor Storm in Husum. Der Text, die Geschichte dazu von Jochen Missfeldt und Christian Demandt. Ich denke, da haben sich Zwei gefunden: Missfeldt, der freie Schriftsteller, der unlängst mit seiner Mammutbiografie »Du graue Stadt am Meer« Furore machte und Demandt, der umtriebige Sekretär der Storm-Gesellschaft, der seinem Dichter immer neue Wege und Aspekte aufweist. Beide zusammen erzählen sie stormsches Leben: »Ein Sonntagskind ist immer der Poet«, so hebt es an, und der 14. September 1817 war wirklich ein Sonntag: Hans Theodor Woldsen Storm wird im Haus Markt 9 geboren, der Erstgeborene des Johann Casimir Storm und seiner zwanzigjährigen Frau Lucie, geb. Woldsen. In einem lebendigen Erzählton, meistens im Präsens gehalten, wird dieses nun beginnende Dichterleben abgespult, wobei die Verfasser durchaus neue, unverblümte Wege gehen. Sie bringen uns, auch mit dem psychologischen Blick, diesen oft zweifelnden Dichter sehr nahe. Die Unruhe seiner Lebensuhr, immer wieder ist sie greifbar. Ein moderner Mensch also. Neben dem Biographischen, neben den Liebesqualen, den Irr- und Abwegen, aber auch all den erfüllten und segensreichen Momenten werden stets 109

die Querverbindungen zur Politik und der Literatur der Zeit hergestellt. Storm war immer Zeitgenosse, stand nie abseits. Sehr schön auch die ausgewählten Zitate am Rand; da geht es nicht nur um die hohe Literatur, auch »Alltägliches« kommt zur Sprache, der Originalton einer Tischrede zum Beispiel: »Man sagt von jungen Rossen, daß sie knappes Futter haben müssen, wenn sie werden sollen, was sie können. Gilt das auch für Menschen, so bin ich in der Kunst der Poesie glücklich daran gewesen. Die Gelehrtenschule meiner Vaterstadt wußte nichts von dieser Kunst.« Das erlaubte sich Storm zu seinem 70. Geburtstag zu sagen. Beigegeben sind dem Band eine Vielzahl (zumeist bekannter) historischer Fotos. Aber dann hat Angelika Fischer den Versuch unternommen, die Räume in Storms Haus und Museum auf nahezu zeitlose Weise zu fotografieren. Sie hat die Innenansichten, vom Wohnzimmer bis zum Schreibtisch, in aller aufgeräumten Biedermeierlichkeit festgehalten. Mit der analogen Hasselblad 6 × 6. Das hat durchaus Stil, auch wenn man sich von der Illustrierung dieses Bändchens her manches etwas frecher, menschlicher und lebendiger gewünscht hätte. Aber Storm wird dieses Jahr zweihundert Jahre alt, das ist verdammt lang her.

Und was ein Literaturmuseum, ein Dichterhaus heute zeigen soll und kann, damit es selbst den (bisher) nicht lesenden Menschen hereinholt, wird ja ohnehin immer wieder neu diskutiert. Auch das Storm-Museum wandelt sich. Doch es bleibt der unverwechselbare Originalschauplatz. Hier, in der Wasserreihe Nummer 31, hat Storm tatsächlich gelebt, von 1866 bis 1880. Und dieses Haus lockte schon damals viele Gäste an, »ein immer fluthendes Haus«, schrieb Storm, »wir leben hier wirklich nach Göthes Vorschrift ›Tages Arbeit, Abends Gäste‹«. Auf dem Etikett dieses ganz in Weinrot gehaltenen Heftchens sind Manuskriptseiten zu sehen, kein Mensch, aber der Federhalter auf dem Schreibtisch liegt so, als wäre er gerade erst aus der Hand gelegt. Storm im Nebenzimmer. Er hat sich alle Zimmer, natürlich auch das Poetenstübchen mit geschnitztem Deckenbalken und roten Wänden, selbst gedichtet. Von seinem gewaltigen Nachruhm ahnt er nichts, aber dieses schmale, bescheidene Heft, das gefällt ihm. Es sollte in keinem Ranzen fehlen. Es passt in jede Mantelund Handtasche. Und das Bild, das den Dichter draußen in den Straßen seiner Stadt, am Meer und in der Heide zeigt, haben wir ja hoffentlich im Kopf. Heiner Egge

Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Eine kommentierte Leseausgabe. Herausgegeben und erläutert von Gerd Eversberg. Mit den Radierungen von Alex Eckener. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2015. 222 Seiten. Beim Lesen dieser Ausgabe, die mit ausführlichen Informationen zum Textverständnis versehen ist, wird 110

deutlich, wie notwendig es war, Storms berühmtestes Werk erneut zu veröffentlichen. Es liegt daran, dass wir Le-

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ser gern Grundsätzliches vergessen, das im Auge behalten werden muss: Ein literarisches Werk hat immer eine vielfältige Vorgeschichte, und es gilt für dessen Rezeption auch. Gerade weil Der Schimmelreiter so oft verlegt und aufgrund von ungenauen Sachkenntnissen auch oberflächlich kommentiert wurde, haben sich Fehlurteile immer wieder eingeschlichen und etabliert. Behoben werden können sie nur durch eine Rückkehr zu allen erdenklichen Quellen, in beiden Sinnen des Wortes, die Storm kannte und verwendet hat. Viele allzu unscheinbare Textstellen werden oft überlesen oder nicht mit der notwendigen Intensität wahrgenommen, weil die Fachkenntnisse des Autors selbst beim sachkundigen Leser von heute nicht mehr vorausgesetzt werden können. Der Schimmelreiter erscheint durch diese Informationsfülle als das Ergebnis einer Reflexion, die über Jahrzehnte herangereift ist. Dieses differenzierte Hintergrundwissen führt dem Leser vor, dass die Biografie Hauke Haiens nicht allein eine künstlerisch wertvolle Geschichte ist, sie ist auch jenseits der Textoberfläche ein komplexes Dokument über die Verschränkung von Ehrgeiz und geschichtlich wie kulturell vorgegebenen Rahmenbedingungen. An dieser Spannung wird nachvollziehbar, was Hauke Haiens Handlungsfreiheit bei der Realisierung seines zukunftweisenden Projektes bestimmt und tragisch einengt. Dem Herausgeber, der über Storms vielseitiges Vorwissen durch akribische Nachforschungen verfügt, ist es auf besondere Weise gelungen, auf ungeahntes oder verschüttetes Hintergrundwissen aufmerksam zu machen, durch das das Werk in die Handlung der Epoche nachweislich fest verankert

wird. Mit dieser einmaligen Ausgabe, die auf einer historisch-kritischen Edition gegründet ist, betritt er für die deutsche Literatur Neuland. Sie richtet sich nach einem Konzept, das in der angelsächsischen Tradition bereits Fuß gefasst hat. Für Lewis Carrolls Alice in Wonderland, Emily Brontës Wuthering Heights und Bram Stokers Dracula existieren bereits solche kommentierten Ausgaben. Es ist dringend zu wünschen, dass dieser Arbeit weitere Ausgaben nach vorliegendem Konzept folgen. Alle Informationen sind dem Durchschnittsleser vielleicht nicht unbekannt, aber durch die räumliche Nähe zum Text lässt sich ohne großen zeitlichen Aufwand das Wissen stets bequem kontrollieren und ergänzen. Die Kommentare nehmen eine knappe Hälfte der Seite ein, sodass der Leser bequem das erfährt, was zum Weltwissen Hauke Haiens und seiner Mitmenschen gehört und ihr Handeln mitbestimmt. Diese Anmerkungen sind vielfältig: Sie umfassen juristische, sprachliche, geografische, historische, kulturelle und interpretatorische Bereiche. Sie werden im Anhang in verschiedenen Essays wieder aufgegriffen und systematisiert. Regionale, dialektale und altertümliche Sprachformen werden erläutert und in deren Zusammenhang gesetzt, damit die Gespräche der Protagonisten in ihren Intentionen auch außerhalb des niederdeutschen Sprachraums verstanden werden. Anspielungen auf die nordische Mythologie werden angeführt, gerade wenn sie für den Text Symbolfunktion haben, wie es für die Rolle der Esche im Werk der Fall ist. Komplexe Ausführungen über die Deichbautechnik und ihre Implikationen für das doppelte Deich111

recht, das preußische und das dänische, werden genannt; das Erb- und das Namensrecht, das für die Ehe zwischen Hauke und Elke entscheidend ist, wird mit einfachen Worten erklärt; die Mentalität und die Sitten der Zeit, die nordfriesischen Gewohnheiten werden vorgestellt. Es ist Eversbergs Verdienst, diese Informationen nicht nur dem Gelegenheitsleser, sondern auch dem mit Storm vertrauten Kenner zur Verfügung zu stellen. Unklare Textstellen werden durch Kommentare und Interpretationshilfen verdeutlicht, gerade wenn sie für das Nachvollziehen späterer sowie davon abhängiger Situationen relevant sind. Verweise auf biografische Zusammenhänge, auf verwandte Stellen aus anderen Werken (z. B. Aquis submersus, Marthe und ihre Uhr), auf Auszüge aus dem Briefwechsel Storms lassen die Novelle im Lichte des Gesamtwerkes erscheinen, auch auf die Entstehungsgeschichte der Novelle wird durch (längere) Zitate aus dem »Concept« (der Entwurfshandschrift) aufmerksam gemacht, damit ein präziser Einblick in die Werkstatt

des Autors bei seiner erzählerischen Arbeit gestattet wird. Durch die Erläuterung von neunzehn Begriffen »für binnenländische Leser« hat Storm für die Buchausgabe die Wissenslücken der damaligen Leser bedacht und behoben. Und diese Erklärungen waren notwendig, wollte Storm seinem Werk einen festen Platz jenseits Schleswig-Holsteins geben. Durch diese terminologische Hilfestellung wurde suggeriert, dass die Verstehensprobleme lediglich am Vokabular liegen könnten. Eversbergs Arbeit greift aber weiter, denn die arbeitsintensiven Recherchen des Autors fließen in das Weltwissen Hauke Haiens mit hinein. Was der Schulmeister beim Reisenden des Binnenrahmens als bekannt voraussetzt, wird dem Leser zur Verfügung gestellt, damit ihm die inneren und äußeren Gründe für das Versagen des Deichbauers klar werden. Diese Ausgabe gehört in jede Bibliothek eines Stormlesers und -forschers, weil sie ein neues Verständnis des Werkes und dessen Autors ermöglicht. Jean Leefbvre

Knecht Ruprecht von Theodor Storm mit Bildern von Klaus Ensikat, Kindermann Verlag Berlin, 2016, 32 Seiten, ISBN 978-3-934029-69-9, 15,90 €. Im Jahre 1862 verfasste Theodor Storm in Heiligenstadt das Gedicht Knecht Ruprecht, das in der Erzählung Unter dem Tannenbaum eingebettet ist. Das bekannte Gedicht ist vielfach von Künstlern illustriert worden. Das neueste Werk stammt aus der Hand des Buchkünstlers Klaus Ensikat (Jg. 1937), der z. B. Werke von Jacob und Wilhelm Grimm, Mark Twain und Johann Wolf112

gang von Goethe mit Bildern versehen hat. Die der Illustrationen eigene und vom Text Storms auf den ersten Blick unabhängige Erzählung beginnt bereits auf dem Cover, was ungewöhnlich für Kinderbücher ist. Aus einer schrägen Vogelperspektive blickt der Betrachter auf eine helle Schneelandschaft ohne Hintergrund: Ein rumpli-

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ger, schrulliger Ruprecht im zerknitterten roten Mantel hat eine Hand resigniert in die Hüfte gestemmt, während der Zeigefinger der anderen sinnierend an die Nase geführt ist. Worüber macht sich der wichtige Protagonist der Weihnachtszeit solche Sorgen? Es ist offensichtlich, dass es am vor ihm stehenden Schlitten liegt, der mit bunten Geschenken gefüllt ist und auf seine Auslieferung wartet. Jedoch ist eine der Kufen gebrochen, so dass der bärtige Mann einen echten Schlittenbruch erlitten hat. Selbst die beiden eingespannten Rentiere schauen mitleidig drein und fragen sich, wie es nun weitergeht. Endet hier schon die Geschichte des Knechts Ruprecht? Nein! Denn der im Vordergrund tanzende Vogel scheint die Lösung des Problems zu kennen. Blättert man das Buch nun auf, erscheinen auf der ersten Seite eine Vielzahl von Tieren im Wald (Reh, Fuchs, Hase, Wolf, Eber, Eichhörnchen, Vögel), die den Leser auf Augenhöhe betrachten. Und schon auf den nächsten beiden Seiten hat sich jedes der Tiere ein Geschenk gepackt und hilft Knecht Ruprecht bei der Auslieferung. Ruprecht ist hier in der schrägen Vogelperspektive des Betrachters wiederum nur als Schatten sichtbar. Während alle Tiere der Laufrichtung Ruprechts folgen, hat sich nur die diebische Elster von den anderen separiert und das auszulieferende Geschenk, wie es sich für eine Elster gehört, in ihrem Nest deponiert. Noch bevor also der Text Theodor Storms einsetzt, gibt es eine kleine eigene Vorgeschichte des Illustrators über das Missgeschick Ruprechts und seine tierischen Helfer. Fortan wechseln sich ganzseitige Illustrationen mit gegenüberstehendem Text ab, der zu-

meist noch mit Figuren ausgeschmückt wird. Spielte sich das Geschehen zu Beginn noch in der Natur ab, wird die Erzählung nun komplett in eine norddeutsche Innenstadt mit Backsteinarchitektur versetzt. Ruprecht streift durch enge Gassen, mit schneebedeckten Dächern und hell erleuchteten Fenstern. Klaus Ensikat bettet Ruprecht insgesamt fünfmal in eine Weihnachtsmarktszenerie ein, von denen zwei sogar über eine Doppelseite angelegt sind. Zu sehen sind verschiedene hell erleuchtete Verkaufsbuden und ein Gewusel von Menschen jeden Alters, die Ensikat mit durchweg fröhlichen und individuellen Mienen gestaltet hat. Im Vordergrund stapft Ruprecht mit einem Sack über den Markt und blickt direkt den Leser an. Tatsächlich ist er sowohl hier als auch auf den anderen beiden Marktillustrationen stets im Vordergrund zu sehen, wobei die ihn umgebenden Menschen ihn nicht wahrnehmen. Es scheint, als sei sein Geist bzw. der Geist der Weihnacht präsent, jedoch nicht als körperlich wahrnehmbare Erscheinung für die Menschen angelegt. Text und Bild gehen bei den Ensikatschen Illustrationen keine enge Symbiose ein. Ganz im Gegenteil scheinen die Bilder fast unberührt von jeglichem textlichen Einfluss zu sein. Doch hier und da schimmert eine zarte Anspielung, eine kleine Verbeugung vor dem Meisterwerk Storms durch. Wenn etwa das Christkind in einen Dialog mit dem Knecht tritt, heißt es: »›Hast denn die Rute auch bei dir?‹ Ich sprach: ›Die Rute, die ist hier.‹« Unter dem Text, der eine ganze Seite zur Verfügung hat, steht ein kleiner schelmisch grinsender Junge. Er blickt lachend zur nächsten Seite, wo Ruprecht in einer städti113

schen Gasse steht und die Rute mahnend erhoben hat. Hinter Knecht Ruprecht bekommt ein Mann einen Schneeball an den Kopf geworfen. Der Verursacher ist auf der nächsten Seite zu finden (ein Kind), wo sich auch der Dialog zwischen Christkind und Knecht über böse Kinder fortsetzt und illustrativ umgesetzt wird. Der letzte Teil des Buches zeigt Ruprecht beim Besuch eines Hauses in einer engen städtischen Gasse. Bemerkenswert ist sowohl hier als auch in den anderen Illustrationen das vermehrte Vorkommen von Schildern, deren Schrift lesbar ist. Hier sind vor allem Werbeschilder dargestellt: »LogirHaus«, »Patent-Koffer«, »The Mercantile Agency of Phoenix«, »Nepom-Klein Grosshandel«. Sie zeugen von einer längst vergangenen Zeit, in der patentierte Koffer und Logierhäuser noch existierten und ein Stück nostalgischer Reminiszenz in den Bildern verankern. Anders verhält es sich mit den Schildern auf dem Weihnachtsmarkt: »Es wird vor Taschendieben [gewarnt]«, »Zuwiderhandelnde werden polizeil. verfolgt«. Sie versetzen den Leser in die unromantische Gegenwart, in der neben der weihnachtlichen Besinnlichkeit Recht und Ordnung nicht außer Kraft gesetzt sind. Ruprecht erhält Einlass in dem warmen, hellen Haus der Familie, in dem der Vater ihn an der Tür empfängt und die Kinder neugierig, aber gelassen hinter einer Treppe hervorschauen. Der Vater und Ruprecht treten im Folgenden auf zwei Seiten in einen Dialog über das Verhalten der Kinder: »Wie einer sündigt, so wird er gestraft, die Kinder sind schon alle brav.« Nach der positiven Bestätigung des Vaters öffnet Ruprecht den Sack voller 114

Gaben, in dem sich Leckereien befinden: »So nehmet denn Christkindleins Gruß, Kuchen und Äpfel, Äpfel und Nuss.« Diese Gaben werden jedoch in einer weiteren Illustration uminterpretiert in kleine verpackte Geschenke, die unter einem prächtig geschmückten Weihnachtsbaum liegen. Der Leser blickt aus einer Aufsicht in den Raum, in dem ein kleines Mädchen lachend am Boden sitzt und ein Geschenk verpackt. Damit schließt Ensikat wieder den Bogen vom nostalgischen Ruprecht mit essbaren Kostbarkeiten im Sack, die er der Legende nach verschenkt, zum zeitgenössischen Weihnachtsfest, bei dem die Geschenke von Menschen- bzw. Kinderhand verpackt werden. Nicht der Knecht Ruprecht ist der materielle Gabenspender, sondern der Mensch. Ruprecht ist hingegen der himmlische Spender des Weihnachtsgedankens. Die für das Werk Klaus Ensikats typische Stricheltechnik findet auch hier Verwendung und prägt den leicht unruhigen Stil der Bilder. Die Köpfe der Personen sind im Verhältnis zum Körper überproportional groß, dadurch werden ihre Physiognomie und ihre Individualität hervorgehoben. Die Menschen sind meist fratzenhaft, oftmals überzeichnet in ihrer Emotionalität dargestellt, womit sich nicht jeder Betrachter anfreunden kann. Ensikats Illustrationen unterliegen einem Wechsel der Perspektive, wodurch er den Blick des Betrachters lenkt, wie beispielsweise beim Cover. Verschiedene Realitätsebenen wie das Erscheinen des Knechtes auf dem Weihnachtsmarkt, der jedoch von den Menschen nicht wahrgenommen wird, werden von Ensikat eingesetzt. Das deutlichste Beispiel hierfür ist das Motiv des Weih-

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nachtsmarktes, der auf einer Doppelseite ohne Ruprecht zu sehen ist. Während die untere Hälfte des Bildes einen Querschnitt durch die Menschenmenge und die Marktbuden zeigt, schweben in der oberen Hälfte zwei Posaunen spielende Engel. Sie sind umgeben von einer Vielzahl von Kinderspielzeugen, wobei sich sowohl die Engel als auch das Spielzeug vor der Marktszene befinden und unsichtbar für die Menschen sind. Diese deutliche Abgrenzung zweier Ebenen, die als irdisch und himmlisch bezeichnet werden können, tritt in dieser Illustration besonders hervor. Sie wird zur Grenzgängerin zwischen dem romantisch-besinnlichen Anspruch des Lesers an das Gedicht Storms und die Weihnachtszeit und der realen Welt, in der die

Weihnachtszeit vom kommerziellen Trubel geprägt ist. Das Buch ist keine nostalgische Referenz an eine friedliche Welt, in der Gut und Böse klar abgegrenzt sind. Knecht Ruprecht ist nicht der majestätisch, bärtige Autoritätsträger, der strafend in die Häuser tritt. Ensikat hat einen sympathischen, knollennasigen Weihnachtsgeist geschaffen, der ungesehen über den materiellen Weihnachtsmarkt stiefelt, aber von der Familie im Haus als Personifikation des Weihnachtsgedankens freudig empfangen wird. Die subtile Bildersprache des Illustrators, die zum genauen Hinsehen einlädt, hat das klassische Gedicht Storms in einen zeitgenössischen Rahmen versetzt, der Groß und Klein gleichermaßen faszinieren kann. Miriam J. Hoffmann

Gerd Eversberg: Mit Theodor Storm auf Sylt. Erkundungen auf den Spuren des Dichters. Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2016. 184 Seiten. Theodor Storm besuchte die Insel Sylt im Sommer 1887. Die Bedeutung dieser Reise für den Dichter ist zwar bekannt, aber weniger die vielseitigen Umstände um die Entstehung der Sylter Novelle, weil nicht nur Literarisches, sondern auch Landeskundliches Eingang fand. Die von Eversberg genannten Spuren erweisen sich als wichtig, weil sie nicht nur Privates konkret an die Oberfläche bringen, sie führen auch an, welchen Einfluss dieser Aufenthalt für sein literarisches Schaffen hatte. Sein einziger Aufenthalt auf Sylt ist auf eine Therapie zurückzuführen, die seine Tochter Lucie wahrzunehmen hatte. Adrian Pollacsek, der Direktor der Seebäder von Westerland und Wen-

ningstedt, hatte den Dichter eingeladen, und die Storms wohnten für die Zeit bei ihm. Es gab dem Dichter Gelegenheit, bekannte Leute zu treffen: Christoph von Tiedemann, den langjährigen Sekretär des Reichskanzlers Bismarck, Ferdinand Tönnies, den künftigen Professor der Soziologie, sowie den Verleger Elwin Paetel, bei dem u. a. Der Schimmelreiter ein Jahr später erscheinen sollte. Sie sind alle drei mit Storm und Lucie auf einem Foto zusammen zu sehen, das am Strand inszeniert wurde. Mit dieser Begegnung schloss Storm einen Kreis, der früh angefangen hatte. Die Gespräche mit seinen Freunden erinnerten den Dichter an die Zeit, in der er Lieder und Sprich115

wörter aus Schleswig-Holstein sammelte und dabei Sprache und Kultur seiner nordfriesischen Heimat erforschte. Dass er seine Entdeckungen und Erlebnisse in seiner Korrespondenz vielfältig belegte, wird ebenso reichlich dokumentiert. Mit der Identifikation dieser Persönlichkeiten wird das Buch eingeleitet, das die Schwerpunkte der Untersuchung festlegt: die literarischen Maßstäbe und die Bedeutung dieser Reise für die schriftstellerische Arbeit des Dichters in der letzten Phase seines Lebens. Beide Aspekte in der bis jetzt zu wenig beleuchteten Phase der Biografie des Dichters werden akribisch mit (längeren) Texten literarischer und landeskundlicher Art und mit Fotos, die aus Storms Zeiten stammen, berücksichtigt. Eversbergs Buch besticht durch die Seriosität seiner vielfältigen Nachforschungen. Es umfasst fundierte und nicht leicht zugängliche Informationen, die weit über die literaturwissenschaftliche Ebene hinausgehen. Referiert wird über den damaligen Bade- und Kurbetrieb, über die Fortbewegungsmittel mit Strecke und Preis, über die Persönlichkeiten, die Storm dort kennen gelernt und getroffen hat. Dadurch wird nachvollziehbar, wie aus einer Idee, die bei einer Wanderung mit Tiedemann in den Dünen der Insel zu Wort kam, eine Skizze für eine Novelle wurde. Es ist Eversbergs Verdienst, sich konsequent mit dieser Zeit auseinandergesetzt und alle erdenklichen Dokumente zusammengetragen zu haben, die das Leben des Dichters betrafen. Als Kommentare werden zahlreiche Auszüge aus seiner Korrespondenz zitiert. Manches war entweder noch nicht erforscht oder ungenau recherchiert, und diese Forschungslü116

cke galt es zu schließen. Das Buch erweist sich als eine Fundgrube für denjenigen, der sich über das Alltagsleben auf der Insel in der Gründerzeit und über die Einflüsse erkundigen will, die Storm maßgeblich dort erfahren hat. Diese Ausführungen sind auch für das Verstehen früherer Novellen nützlich, weil sich der heutige Leser nicht mehr vorstellen kann, wie sich das Alltagsleben damals gestaltete. Die Hinweise auf die Badevorschriften sind für Norddeutschland allgemeingültig. Sie galten ebenso auf der Insel wie an der Nordseeküste. Durch die heutige Lockerung der Sitten ist kaum noch vorstellbar, dass eine Aufsicht darauf zu achten hatte, dass getrennt nach Geschlechtern gebadet wurde. Zu Beginn der Novelle Psyche wird zum Beispiel erwähnt, dass eine als streng und »knochig« (LL2, S.312) beschriebene Badefrau einer »Mädchenknospe« das unbekleidete Schwimmen vehement verbietet. Die in der Novelle entstehende Reflexion über die Freiheit findet ihren Anfang darin, dass sich das junge Mädchen darüber hinwegsetzt. Storms Ausarbeitung des Stoffes der Sylter Novelle fordert eine eingehende Auseinandersetzung mit den möglichen Quellen. Zusätzlich zu den Sagen, die in Karl Ernst Laages Abhandlung ›Theodor Storm auf Sylt‹ und die ›Sylter Novelle‹ (2015) vorgestellt werden, konnte Eversberg den Beitrag eines viel gelesenen Autors aus Berlin anführen, der Schleswig-Holstein als Journalist bereiste und den er persönlich kannte. Für den Schimmelreiter hatte Eversberg bereits auf Theodor Mügges Novelle Sam Wiebe aufmerksam gemacht, der Storm auf die Idee eines gebildeten Besuchers aus der Geest brachte, um einem kompetenten Zuhö-

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rer für den Schulmeister zu haben. In einem überzeugenden Nachweis über die Parallelen zwischen den friesischen Freiheitskämpfern in Storms Sylter Novelle und in Mügges Voigt von Silt unterstreicht Eversberg, dass sich Storm nicht allein an älteren Quellen bedient, wie er es an den Textsammlungen von C. P. Hansen tat, dem Lehrer und Chronisten aus Keitum, sondern auch dank seiner Belesenheit auf die Literatur seiner Zeit zurückzugreifen Wert legte. Da Storm Mügges Werk eingehend

kannte, erweist sich dieser Hinweis als bahnbrechend für die Storm-Forschung. Eversberg lädt den Leser zu einer lehrreichen Reise in Zeit und Raum auf eine Insel ein, der Storm ein literarisches Monument gesetzt hätte, hätte er nach den mühseligen Korrekturen am Schimmelreiter noch die Kraft besessen, sich an diese düstere Liebesgeschichte setzen zu können. Jean Leefbvre

Karl Ernst Laage: Theodor Storm zum 200. Geburtstag. Aufsätze, Untersuchungen, Dokumente. Heide: Boyens 2017. 150 Seiten. Fünfundzwanzig Beiträge versammelt das Buch, das Karl Ernst Laage dem Dichter Theodor Storm zum zweihundertsten Geburtstag gewidmet hat. Mit einem mutmaßlich falschen Eintrag in Storms Geburtsurkunde beginnt es, und es endet mit der letzten und entscheidenden Änderung, die der schon sterbenskranke Storm am Schluss seiner Schimmelreiter-Novelle vornimmt. Knapp und kurz sind die Kapitel allesamt. Der längste umfasst nur zehn Seiten, einige sind nur vier Seiten lang, und sie alle kennzeichnet eine gespannte und lakonische Präzision. Auch die sechzehn Beiträge, die bereits an anderer Stelle erschienen waren, hat Laage eingreifend überarbeitet, energisch gekürzt und pointiert. Das Stilideal des promovierten Altphilologen, der erst nach seinen Lateinstudien zum Germanisten wurde, ist lebenslang jene Anschaulichkeit geblieben, die sich den klaren Konturen verdankt, in der Argumentation wie im Satzbau.

Charakteristisch dafür ist Laages Umgang mit Zitaten: So weit wie irgend möglich nimmt er sie in seine eigenen Sätze auf, verbindet Behauptung und Beleg und erzeugt so eine Dichte, in der kaum noch Redundanzen bleiben. Als eine Sammlung von zumeist verstreut, oft entlegen erschienenen und um komplettierende Beiträge ergänzten ›Kleinen Schriften‹ könnte dieses Buch augenscheinlich dem Band Theodor Storm: Neue Dokumente, neue Perspektiven an die Seite treten, den Karl Ernst Laage 2007 in den Husumer Beiträgen zur Storm-Forschung herausgegeben hat. Tatsächlich aber handelt es sich hier um ein konzeptionell eigenständiges Werk: um den Versuch, aus sprechenden Details heraus den Umriss eines großen Mosaiks zu erarbeiten. Dabei gehen Laages Streifzüge, in chronologischer Folge und in einem bunten und überraschungsreichen Wechsel der Sujets, kreuz und quer 117

durch die biographischen und literarischen Verhältnisse. Die beruflichen und die privaten Aspekte der bürgerlichen Existenz, also etwa die Etablierung der Rechtsanwaltspraxis und die Ehe- und Familienprobleme in den wechselnden Wohnungen; kommen dabei ebenso in den Blick wie die Entwicklung des literarischen Schreibens von den ersten, tastenden Gedichtversuchen (Sommernacht) über die Novellen der Reifezeit (Im Schloß, Viola tricolor, Carsten Curator, Ein Doppelgänger, Ein Bekenntnis) bis zum großen Abschluss mit dem Schimmelreiter. Nichts an diesem fragmentarischen Porträt eines bürgerlichen Realisten und oft unbürgerlichen Mannes ist ganz neu. Und doch setzt es sich zusammen aus lauter Neuheiten. Jahrzehntelang hat Karl Ernst Laage die Arbeit, die er als Sammler und Spurensucher für das von ihm gegründete Storm-Museum geleistet hat, für die Auseinandersetzung mit Storms Texten fruchtbar gemacht; immer wieder sind es Dokumente oder Dinge gewesen, von denen aus sich seinem Blick gleichsam Seiteneingänge in Werke öffnete, die man schon zu kennen glaubte. Karl Ernst Laage interessiert sich hier wenig für literarische Theorien, umso mehr aber für Landschaften und Gebäude, für ein längst abgerissenes Posthaus und einen umgebauten Gesellschafts-Saal, kurz die »Wohnhauswirklichkeit« (S. 104) der Storm’schen Fiktionen, für den Renaissancekamin im Husumer Schloss, dessen Todes-Allegorien den Autor bis in die Alpträume der Novelle Im Schloß hinein verfolgen, und für die berühmte Tasse, deren selbstentworfenes Möwen-Motiv Storm als selbstbewusst anti-aristokra118

tisches Wappen dienen sollte. Laage will wissen, wo genau der Gymnasiast Storm gewohnt hat, als er wie sein späterer Bewunderer Thomas Mann das Lübecker Katharineum besuchte (es war an der Untertrave), wer dort seine Lehrer waren und mit welchen Freunden er sich über seine literarischen Entdeckungen unterhielt – Entdeckungen, zu denen nicht nur, wie bekannt, Heines Gedichte und Goethes Faust gehörten, sondern auch, und weit weniger bekannt, die im Lateinerkreis des Schuldirektors Friedrich Jacob gelesenen und auf Latein erörterten Idyllen des Theokrit. Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis, dass der junge Rechtsanwalt Storm sich für den Mangel an gleichgesinnten Freunden mit der Literatur schadlos hält, sondern er spürt diese Lektüren im Einzelnen auf. Erst damit wird erkennbar, wie weit- und weltläufig der literarische Horizont dieses Lesers war, der neben Tieck und Immermann auch Goethes orientalistische Noten und Abhandlungen zum Divan las, eine Neubearbeitung der französischen Geschichte von Abaelard und Heloïse und Dickens’ Martin Chuzzlewitt. Und erst von hier aus wird dann auch sichtbar, wieviel Storms Jugendlyrik ausgerechnet jenem West-östlichen Divan verdankt, mit dem das bürgerliche 19. Jahrhundert sonst so wenig anzufangen wusste. Auch dort, wo es um den ins preußische Exil gegangenen und den nach Husum heimgekehrten Storm geht – den Potsdamer und Berliner Literaten wie den Heiligenstädter Kreisrichter –, führen solche Spuren hinein ins Werk – immer ausgehend von den Orten, an denen Storm gearbeitet und geschrieben, die er besucht oder gemieden hat, von Gemälden, die er gesehen, Bü-

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chern, die er gelesen, Freunden und Kollegen, mit denen er über sie gesprochen hat. Diesen literarischen Beziehungen gilt Laages besondere Aufmerksamkeit. Wir sehen Storm als Freund und zeitweiligen Rivalen Fontanes in Berlin (und dann, eine weit weniger bekannte Szene, als Gastgeber Fontanes, der für seine Kriegsberichterstattung die dänisch-preußischen Kampfstätten aufsucht, in Husum), als Besucher, Mitstreiter und dann auch Kritiker Paul Heyses am Chiemsee, als väterlichen Freund und Mentor des jungen Ferdinand Tönnies, mit dem er, der gleichzeitig im Doppelgänger als erster bürgerlicher Realist das Landproletariat schildert, soziale Fragen diskutiert. Überraschend rückt Fontanes spaßhaft-böses Wort von Fontanes „Husumerei“ in die Nähe der „Oblomowerei“, die in der russischen Rezeption von Gontscharows Oblomow zur Redensart wurde, und ebenso überraschend zeigt Storm sich als tatkräftiger Unterstützer der deutschen Übersetzung von Iwan Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers. Gerade dieser weltliterarische Horizont, der beiläufig immer wieder ins Bild kommt, ist für Karl Ernst Laages material- und lokalgeschichtliche Erkundungen wesentlich. Es wäre ein Leichtes, Arbeiten wie diese als eine Art höherer Heimatkunde abzutun; nichts aber würde ihrer spezifischen Leistung größeres Unrecht zufügen. Wenige haben ja so früh und so konsequent wie eben Laage den weltliterarischen Autor Storm vom vermeintlichen Heimatdichter der nationalkonservativen und völkischen Germanistik ge-

schieden; und wenige haben den politischen Zeitkritiker so entschieden gegen das Klischee vom Dichter biedersinniger Innerlichkeit in Stellung gebracht. Vielleicht hat überhaupt niemand vor Laage diese neue, weltläufig-weltoffene Sicht auf Storm so energisch vertreten wie Thomas Mann – dessen Storm-Essay er denn auch als erster in einer kritisch kommentierten Neuedition vorgelegt hat. Aus der Doppelperspektive von Weltliteratur und »Wohnhauswirklichkeit« ergibt sich eine wesentliche Leistung dieses Bandes, wie überhaupt von Karl Ernst Laages Lebenswerk: dass er einen sensiblen (um den berühmten Buchtitel von Ursula Heise aufzugreifen) »sense of place« verbindet mit einem ebenso wachen »sense of planet«. In einem Brief an seinen Berliner Freund Friedrich Eggers schreibt Storm anlässlich eines Widmungsgedichts zu Immensee, das mit dem Vers beginnt »Aus diesen Blättern steigt der Duft des Veilchens«, im Dezember 1856 den bemerkenswerten Satz: »Dieses Veilchen ist keine poetische Fiktion; es wuchs bei Husum auf der Heide des Schobüller Berges«. Natürlich hat sich das Veilchen im Gedicht eben doch in eine poetische Fiktion verwandelt. Aber der Boden, aus dem die Fiktion erwächst, ist eine Wirklichkeit, die sich benennen, ermessen und erwandern lässt. Karl Ernst Laage, der Storms Satz auf Seite 38 seines Buches zitiert, hat den Zauber dieses Übergangs wie kein anderer spürbar gemacht – in der nüchternen Präzision einer großen poetischen Spurensuche. Heinrich Detering

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Storm-Bibliografie Zusammengestellt von Elke Jacobsen, Husum

Nachträge bis zum Jahr 2014 Eversberg, Gerd: Der Schauplatz von Storms Novelle Der Schimmelreiter. In: Bulletin der Theodor-Storm-Gesellschaft Japan 60 (2013), S. 3–9. Goldammer, Peter: Gruß zum dreißigsten Jahrestag der japanischen Stormgesellschaft. In: Bulletin der Theodor-Storm-Gesellschaft Japan 60 (2013), S. 2. Kato, Takeo: Bemerkungen und Fragen anläßlich der Übersetzung der Gedichte. Kleiner Beitrag zur Verbesserung der LL-Ausgabe. In: Bulletin der Theodor-Storm-Gesellschaft Japan 60 (2013), S. 20–23. Kobatake, Hiroshi: Die Bibliographie der übersetzten Gedichte und Prosa in dem Band 6 der Storms sämtlichen Werke. (In japan. Sprache.) In: Bulletin der Theodor-Storm-Gesellschaft Japan 60 (2013), S. 41–46. Kobatake, Hiroshi: Über den Tod in Storms Werken. (In japan. Sprache.) In: Bulletin der Theodor-Storm-Gesellschaft Japan 59 (2012), S. 1–7. Nakamura, Osamu: Die Sublimierung der Illusion zur Realität. Gedanken zur pädagog. Bedeutung in Theodor Storms Novelle Pole Poppenspäler, u. a. in ihrer Kindheitsgeschichte. (In japan. Sprache.) In: Bulletin der TheodorStorm-Gesellschaft Japan 60 (2013), S. 26–40. Storm, Theodor: Der kleine Häwelmann. Bilder v. Else Wenz-Viëtor. 1. Aufl. Berlin: Betz 2014. O. Pag. Storm-Rusche, Angelika: Die Mutter hat’s gewollt... Illustrationen zu Theodor Storms Immensee. In: Bulletin der Theodor-Storm-Gesellschaft Japan 60 (2013), S. 10–15. Theodor Storm in Heiligenstadt. Der Katalog. Hg. v. Literaturmuseum Theodor Storm in Heilbad Heiligenstadt. Konzeption, Texte u. Bildauswahl Regina Fasold. Gestaltung d. räuml. Installationen Werner Löwe. Gestaltung d. Dokumentation u. d. Katalogs Katharina Hertel. Heilbad Heiligenstadt 2010. 83 S. Zahlr. Ill.

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Neuerscheinungen 2015–2016 I. Werke, Übersetzungen, Briefe

Mit Storm ans Meer. Ostfildern: Thorbecke 2016. 62 S. Zahlr. Ill. (Geschenk v. Werner Strumann, Münster.) Storm, Theodor : A Doppelgänger with Aquis submersus. Indroduction by Barbara Burns. (In engl. Sprache.) Translated with an afterword and notes by Denis Jackson. London: Angel Books 2015. 200 S. (Angel Classics.) Storm, Theodor: De lütte Häwelmann in’t Plattdüütsche överdragen vun Ulrich Gradert. Mit de bekannten Biller v. Else Wenz-Viétor. Malente: Vitolibro 2016. O. Pag. Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Mit 13 Abb. Hg., mit Anm. u. e. Nachw. v. Philipp Theisohn. Stuttgart: Kröner 2016. 188 S. Ill. (Erlesenes Lesen. Kröners Fundgrube d. Weltliteratur.) Storm, Theodor: Knecht Ruprecht. Mit Bildern v. Klaus Ensikat. 1. Aufl. Berlin: Kindermann 2016. O. Pag. Zahlr. Ill. (Poesie für Kinder.)

II. Sekundärliteratur

Bartl, Andrea: Von der Eigendynamik der Dinge. Eine vergleichende Lektüre v. Theodor Storms u. Thomas Manns Novellen. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 159–175. Bleyer, Jule: Der Pastor, der ein Pharisäer war. In: Hamburger Abendblatt vom 2. 1. 2016. Blödorn, Andreas: Meeresrauschen. Immanente Transzendenz u. anti-bürgerl. Fluchtimpulse bei Theodor Storm u. Thomas Mann. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 265–281. Böhm, Georg: Hans Momsens Haus in Fahretoft ist jetzt Museum. In: Nordfriesland 193 (2016), S. 24–26. Ill. Demandt, Christian: Drei Dinge. In: ALG Umschau 54/55 (2016), S. 26. (Hartmut-Vogel-Preis.) 121

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Demandt, Christian: Nachruf auf Holger Borzikowsky (1. 8. 1947-21. 12. 2015). In: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 29 (2016), S. 24. Demandt, Christian: Storm-Forschung und Storm-Gesellschaft. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 65 (2016), S. 121–124. Denkert, Malte: »Herrlichkeit und Schande«. Versuche d. Selbstfindung jenseits bürgerl. Vorstellungen bei Theodor Storm, Thomas u. Heinrich Mann. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 69–86. Detering, Heinrich: Das Meer meiner Kindheit. Thomas Manns Lübecker Dämonen. Heide: Boyens 2016. 280 S. Ill. (Kap. VI: Ausbruch und Heimweh: Tonio Kröger und Immensee). Detering, Heinrich: »Nicht ganz korrekt«. Thomas Mann u. Theodor Storm als entlaufene Bürger. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 51–67. Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016. 295 S. (Thomas-Mann-Studien. 52.) Elsaghe, Yahya: Theodor Storm und Thomas Mann als Zeitgenossen des medizinischen Fortschritts. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 201–224. Erdmann-Degenhardt, Antje: Storms unvergessliche Nacht in Nortorf. In: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 29 (2016), S. 22–23. Ill. Ermisch, Maren: Die Kontrafaktur des buckligen Männleins. Eine Malerarbeit u. Der kleine Herr Friedemann. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 103–114. Eversberg, Gerd: Das Thurmgemach. Theodor Storm schreibt e. Gespenstergeschichte. In: Beiträge zur Husumer Stadtgeschichte 15 (2016), S. 108–122. Faks. 122

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Eversberg, Gerd: Mit Theodor Storm auf Sylt. Erkundungen auf d. Spuren d. Dichters. Husum: Husum Druck- u. Verlagsges. 2016. 184 S. Zahlr. Ill.; Faks. (Geschenk v. Verf.) Eversberg, Gerd: »Nur Eines bleibe: Deine liebe Hand«. Ein bisher unbekanntes Altersgedicht v. Theodor Storm. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 20 (2016), S. 86–94. Faks. Eversberg, Gerd: Theodor Storms Entwurf Sylter Novelle – Edition, Entstehung und Quellen. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 65 (2016), S. 5–37. Fasold, Regina: Nicolai Sunde (1823-1864). Porträtmaler aus Husum u. Freund d. Storm-Familie. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 20 (2016), S. 95–104. Ill. Gerrekens, Louis: Erinnerte Bilder, verdrängte Realität? – Zum Verhältnis v. Gesehenem u. Erlebtem in Storms Novelle Im Nachbarhause links. In: StormBlätter aus Heiligenstadt 20 (2016), S. 66–85. Hamacher, Bernd: »Was wollte er? Das ist der Norden«. Zur literar. Topographie Thomas Manns u. Theodor Storms. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 251–264. Hansen, Erk F.: Nur ein »Liebesabentheuer«? Zu Theodor Storms Novelle Ein Fest auf Haderslevhuus (1885). In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 65 (2016), S. 38–56. Jackson, David A.: Nachruf auf Clifford Albrecht Bernd. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 65 (2016), S. 111–113. Jacobsen, Elke: Storm-Bibliografie. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 65 (2016), S. 114–120. Laage, Karl Ernst: Storm-Spiegelungen in Thomas Manns Buddenbrooks und in Tonio Kröger. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 115–122. Laage, Karl Ernst: Theodor Storms Schimmelreiter und Hans Momsen. In: Nordfriesland 193 (2016), S. 20–23. Ill. 123

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Laage, Karl Ernst: Theodor Storms Schimmelreiter und Hans Momsen. Vortrag d. Hans-Momsen-Preisträgers am 1. November 2015 im Rittersaal d. Schlosses vor Husum. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 65 (2016), S. 57–62. Leyh, Valérie: »Du ahntest nichts davon, aber ich habe es gesehen«. Aspekte visueller Wahrnehmung in Theodor Storms Novelle Eine Halligfahrt. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 20 (2016), S. 50–65. Leyh, Valérie: Geräusch, Gerücht, Gerede. Formen u. Funktionen d. Fama in Erzähltexten Theodor Storms u. Arthur Schnitzlers. Berlin: E. Schmidt 2016. 310 S. (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung. 11.) Lipinski, Birte: Theatrale Ausflüge zweier Epiker. Rolle u. »unmaskierte Wirklichkeit« bei Thomas Mann u. Theodor Storm. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 225–249. Lohmeier, Dieter: Als die deutschsprachige Literatur in den Herzogtümern schleswig-holsteinisch wurde. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 65 (2016), S. 63–82. Matt, Elinor: Der Schimmelreiter, Theodor Storm. Schülerheft. Berkheim: Krapp & Gutknecht 2016. 64 S. (Auch Lehrerheft, 72 S.; auch Materialien CD.) Max, Katrin: Fern von »Bürgerwonne und Goldschnittgemüt«. Theodor Storm, Thomas Mann u. d. Schwierigkeit, d. ‚Bürgerliche‘ zu definieren. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 11–27. Missfeldt, Jochen / Demandt, Christian: Theodor Storm in Husum: Menschen und Orte. 42 Abb. Berlin: Edition A.B. Fischer 2016. 32 S. Mitteilungen aus dem Storm-Haus 30. Hg.: Theodor-Storm-Gesellschaft. Red. Nina Hirschbrunn, Martje Sältz, Christian Demandt 30 (2016). 68 S. Zahlr. Ill. Neumann, Christian: »Da stand das Kind am Wege« - Immensee u. d. Irrwege e. Bürgers. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 20 (2016), S. 6–30. Otto v. Brocken, Rüdiger: »Mich reizt der junge Storm«. Tilman Spreckelsen über seinen neuen Storm-Krimi, Husumer Bausünden u. d. Planungen für 124

St o r m-Bibl io grafie

Fall Nr. 3 v. Peter Söt u. Theodor Storm. In: Mitteilungen aus dem StormHaus 29 (2016), S. 9. Ill. Pastor, Eckart: Abwege, Abwärtswege. Verfallsgeschichten auf d. Staatshof, in d. Mengstraße u. Fischergrube. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 123–135. Pastor, Eckart: Andacht, Inbrunst, lüsterne Neugier: Bilder an der Wand und ihre Betrachter in Storms frühen Novellen Immensee, Im Sonnenschein und Auf dem Staatshof. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 20 (2016), S. 31–49. Petras, Ole: Machtlose Kraft, kraftlose Macht. Raum u. Bürgertum in Storms Sylter Novelle u. Thomas Manns Der kleine Herr Friedemann. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 87–101. Rathjen, Friedhelm: Zettelwirtschaft. Studien zu Genese u. Rezeption d. Spätwerks v. Arno Schmidt. Südwesthörn: Ed. ReJoyce 2016. 165 S. (89–124: Nicht unleicht imprägniert mit STORM. Schmidts Husumerei in der Schule der Atheisten u. anderswo.) Reinhard, Nadja: Der experimentelle Blick des Jünglings. Inszenierung e. Wagnisses unbefangen-befangener Sinnlichkeit bei Theodor Storm u. Thomas Mann. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 177–200. Sältz, Martje: Die Stadt spielt ihren Dichter. Interview mit Frank Düwel. In: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 29 (2016), S. 18–20. Ill. Schirp, Uwe v.: Beeindruckende Effektivität in der täglichen Arbeit. Festabend zur Verleihung d. Hartmut-Vogel-Preises an d. Theodor-Storm-Gesellschaft. In: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 29 (2016), S. 12–13. Ill. Schneider, Jens Ole: Bürgerlichkeit als semantische Konstruktion. Zur narrativen Inszenierung moderner Identitäten in Thomas Manns Buddenbrooks u. Theodor Storms Die Söhne des Senators. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 29–50. 125

E l ke J a co b s e n

Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft. Im Auftr. d. Theodor-Storm-Ges. hg. v. Malte Denkert, Dieter Lohmeier u. Philipp Theisohn. 65 (2016). Heide: Boyens 2016. 125 S. Ill. Steensen, Thomas: Franziska zu Reventlow, ihr Roman Ellen Olestjerne und »Husumzauber«. In: Zwischen Eider und Wiedau. Heimatkalender. Husum: Husum Druck- u. Verlagsges. 2015, S. 135–140. Ill. (Auch Th. Storm erwähnt.) Steensen, Thomas: Nordfriesland vor 150 Jahren. Festvortrag auf d. Jahresversammlung d. Nordfries. Vereins am 25. 10. 2014 in Risum, „Fraschlönj“. In: Zwischen Eider und Wiedau. Heimatkalender. Husum: Husum Druck- u. Verlagsges. 2016, S. 38–50. Ill. (Auch Th. Storm erwähnt.) Storm-Blätter aus Heiligenstadt. Hg.: Literaturmuseum „Theodor Storm“. Red.: Regina Fasold. 20 (2016). 108 S. Ill.; Faks. Theisohn, Philipp: Der Sohn der Danaë. Manns Buddenbrooks, Storms Carsten Curator u. d. Mythos d. Spekulation. In: Detering, Heinrich u. Maren Ermisch u. Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum u. Lübeck 2015. Frankfurt a.M.: Klostermann 2016, S. 137–157. Theisohn, Philipp: Menschen zusammenbringen. In: ALG Umschau 54/55 (2016), S. 25. (Hartmut-Vogel-Preis.) Thoroe, Carsten u. Uwe Haupenthal: Die Regentrude von Breklum. In: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 29 (2016), S. 21. Weatherby, Leif: Die Kinetik der Wiederholung. System u. Anschauung bei James Clerk Maxwell, Ferdinand Tönnies u. Theodor Storm. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 65 (2016), S. 83–101. Wißkirchen, Hans: Die Macht der kleinen Truppe. In: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 29 (2016), S. 14–18. Wißkirchen, Hans: Poetischer Kosmos mit großer Ausstrahlungskraft. Laudatio Hartmut-Vogel-Preis. In: ALG Umschau 54/55 (2016), S. 21–24. Ill. III. Sekundärliteratur (Examensarbeiten u.ä., außer Diss.) IV. Film, Fernsehen, CD, CD-ROM u. ä.

Katja Riemann liest Die Regentrude von Theodor Storm. München: audio media verl. 2016. CD. 126

Storm-Forschung und Storm-Gesellschaft Christian Demandt, Mildstedt

Storm-Archiv und -Bibliothek Die Storm-Bibliothek und das Archiv der Theodor-Storm-Gesellschaft wurden von Storm-Forschern, Verlagen, Herausgebern, Regisseuren, Doktoranden, Studenten und weiteren Interessierten aus aller Welt genutzt. Die Mitarbeiter des Archivs gaben vielfältige Auskünfte zu Leben und Werk Theodor Storms; die Einrichtung wurde von zahlreichen Besuchern für wissenschaftliche Arbeiten besucht.

Neuerwerbungen des Storm-Archivs Bücher, literarisch Richter, Manfred: Zwischen den Meeren. Gedichte: Selbstverl. o. J. 117 S. Ill. (Mit Storm-Bezügen.) (Geschenk v. Verf.) Spreckelsen, Tilman: Der Nordseespuk. Ein Theodor-Storm-Krimi. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2016. 254 S.; Kt. (Fischer Taschenbuch.) Siehe ansonsten die Bibliografie von Elke Jacobsen.

Storm-Museum Das Storm-Museum zählte 2016 insgesamt 16.213 Besucher. Es wurden 160 Führungen gebucht; davon sind 49 Schüler- und 111 Erwachsenengruppen von Mitarbeitern der Storm-Gesellschaft durchs Haus geführt worden. Folgende Sonderführungen wurden gebucht: –  Der kleine Häwelmann – Literaturführung für Kinder –  Schüler führen Schüler –  Museumsführung für Schulklassen –  Museumsführung für Erwachsene –  Literarischer Gang durchs Dichter-Haus –  Auf den Spuren Storms durch Husum – Schimmelreiter-Tour. Im Museum fanden Ausstellungen, Vorträge, Lesungen, Filmvorführungen und Seminare für unterschiedliche Besuchergruppen statt. 127

Christian Demandt

Storm-Gesellschaft Die Gesellschaft hatte zum Jahresende 2016 1203 Mitglieder. Folgende Personen arbeiteten an den vielfältigen Aktivitäten der Gesellschaft im Husumer Theodor-Storm-Zentrum mit: Neben dem Präsidenten Prof. Theisohn und dem Sekretär Dr. Demandt sind dies Frau Jacobsen (Sekretariat und Bibliothek), Frau Hirschbrunn ab September als Mitarbeiterin bei der Vorbereitung der Feiern zum 200. Geburtstag Theodor Storms 2017, Herr Küter als Rechnungsführer, Frau Petersen, Frau Gerckens und Frau Klinge (bis Juli) an der Museumskasse (und überall in beiden Häusern, wo etwas gepflegt oder geschmückt werden muss); Flemming Ivers als Hilfskraft bis Juli, Niklas Friedrichsen als Webmaster. Bjarne Albertsen leistete ab August, Muriel Stäcker ab September ihren Bundesfreiwilligendienst bei der Theodor-Storm-Gesellschaft. Museumsführungen: Frau Petersen, Herr Albertsen, Frau Thomas-Feuker, Nino Moritz (»Literarischer Gang« und verschiedene weitere Themenführungen), Jörg Hartmann (»Abseits. Halbtagestour durch Nordfriesland«, »Theodor Storms Blumen – eine Gartenführung« sowie »Auf den Spuren Storms«); Martje Sältz, Laura Zeschke, Sven Ebel, Lucas Rollenbeck, Leander Petersen, Flemming Ivers, Saskia Godt, Svea Benett, Josef Kögel (»Schüler führen Schüler«), Roman Mulke (verschiedene Themen- und Sonderführungen), Bettina Görke (Schimmelreiter-Führung und »Bürger auf Abwegen«) sowie Dr. Malte Denkert (»Bürger auf Abwegen«). Das Präsidium der Storm-Gesellschaft bestand 2016 aus: Prof. Dr. Philipp Theisohn, Zürich (Präsident); Prof. Dr. Karl Ernst Laage, Husum (Ehrenpräsident); Prof. Dr. Dieter Lohmeier, Kiel (Vizepräsident); Dr. Christian Demandt, Mildstedt (Sekretär); Olaf Küter, Husum (Rechnungsführer); Uwe Schmitz, Bürgermeister der Stadt Husum (Beisitzer); Dr. Regina Fasold, Heiligenstadt (Beisitzerin); Dr. Gabriele Radecke, München (Beisitzerin); PD Dr. Malte Stein, Hamburg (Beisitzer); Prof. Dr. Gerd Eversberg, Münster (Beisitzer); Dr. Jean Lefebvre, Reinsbüttel (Beisitzer).

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